Das Verschwinden des Schwätzchens
 
Zersplitternde Gesellschaft
Ein Kleinbus hält vor den Garagen. Der Beifahrer schaut auf ein Papier. Dann steigen sie aus, und gehen zum Laderaum. Der Eine setzt sich Gehörschützer auf, wirft eine Heckenschere an und beginnt die Hecke an der Grundstücksgrenze zu schneiden. Der Andere holt Rechen, Schaufel, große Säcke und beginnt das abgeschnittene Grün aufzusammeln. Er hat keinen Gehörschutz, auch die Nachbarn nicht, die höchstens die Fenster schließen können. Später werden die Heckenreste mit einem lauten Gebläse vom Gehweg "gefegt" werden.
Wenig später kommt im Anzug, mit Aktentasche und telefonierend ein junger Mann aus dem Haus, überquert mit dem wartenden Taxifahrer, den er nicht einmal grüßt, die Straße und steigt ins wartende Taxi. Dort wird er dem Taxifahrer zumindest das Fahrziel nennen müssen, ehe er weiter telefoniert.
Zwei kleine Szenen, die zeigen, wie unsere Gesellschaft zersplittert. Früher hätte sich ein Gärtner im Haus gemeldet: "Guten Morgen wir sind jetzt da, was sollen wir denn machen?" Daraufhin hätte ihm der Hausbesitzer, oder sein Beauftragter gezeigt, was zu machen ist und erklärt, wie er es gerne hätte. Aber in einem Mietshaus, in dem sich keiner für das Haus verantwortlich fühlt, geht das gar nicht mehr. Also kein persönlicher Kontakt mehr, nur eine schriftliche Anweisung, keine Besprechung und natürlich auch minderwertigere Arbeit, denn mit einer Heckenschere kann man zwar die Kontur der Hecke verändern, aber nicht durch einen gezielten Schnitt fremde Pflanzen aus der Hecke entfernen, oder durch bewussten Schnitt dazu beitragen, das sie gleichmäßig dicht wird. So wächst heute Buchsbaum, Lebensbaum, Flieder, Forsythie und Kirschlorbeer mit anderen Pflanzen wild durcheinander und wird zum "Straßenbegleitgrün" dessen Arten und Eigenschaften niemanden mehr interessieren. Ähnlich gehen die Menschen miteinander um. Der Telefonierende sieht im Taxifahrer nicht mehr den Mensch, der ihm einen Dienst erweist und mit dem man zumindest Gruß und Dank austauscht, wenn man schon zu keinem Schwätzchen aufgelegt ist, sondern er sieht nur eine Dienstleistung, auf die er ein Anrecht zu haben meint, weil er sie bezahlt.
Wer darauf achtet, findet Beispiele dieser Zersplitterung der Gesellschaft überall. Das hat nicht erst mit Kopfhörern, Walkman und mp3-Player angefangen, oder mit Selbst-"Bedienungs"-Automaten, dem Mobiltelefon und Autos, die fahrende Studios voller Lautsprecher sind. Die ersten Autos waren offen, man konnte sich mit lauten Rufen verständigen. Genauso hat der Selbstbedienungsladen das Schwätzchen und die Begegnung im Laden an der Ecke verdrängt. Einmal, weil die kleinen Läden im Viertel verschwanden, zum Anderen läuft jeder Kunde herum und sucht sich seine Einkäufe zusammen, während man früher beim Schwatzen darauf wartete bis man dran kam und bedient wurde, wobei der Ladner oder die Verkäuferin sehr genau wusste, wo etwas zu finden war, es rasch auf die Theke stellte und kassierte. Heute dagegen steht man in einer Schlange an einer der wenigen geöffneten Kassen und wartet dort, meist ohne Schwatz, denn man kennt sich ja nicht mehr.
Viele Vorgärten wurden im Laufe der Zeit zu Garagen oder Parkplätzen. Damit entfällt aber auch der Schwatz über den Gartenzaun, das "Wie geht's?", "Was macht die Familie?", "Ihre Rosen sind ja dieses Jahr wunderbar!" oder nur: "schön haben sie den Zaun gestrichen!" Genauso entfällt für Viele das gemeinsame Warten an der Haltestelle, der morgendliche Gruß, oder die Plauderei während der Fahrt. Immer mehr Schüler können den Schulweg nicht mehr zu Fuß zurück legen, weil die Schule im Dorf oder Viertel geschlossen wurde, oder die Eltern Angst davor haben ihre Kinder zu Fuß in den Straßenverkehr zu lassen. Also verstärken sie ihn lieber selbst, indem sie ihre Kinder zur Schule fahren und oft, weil sie spät dran sind, zu einer Gefahr für alle anderen Kinder werden. Die Kinder erleben nicht mehr Wind und Wetter, Gespräche mit Klassenkameraden, in denen es um Gott und die Welt und manchmal auch um das Gelernte geht, da entstehen keine Freundschaften mehr beim gemeinsamen Klingelputzen, oder Fliederstehlen für den Muttertag. Da gibt es kein gemeinsames Wegrennen, wenn man frech zu einem Erwachsenen war, oder nach einem Streich Angst bekommt. Auch Wettläufe, vertraulicher Austausch über Vorlieben, Spielzeug und das Zuhause findet nicht mehr unterwegs statt. Dafür sitzen manche dann am Nachmittag "chatend" (eine Art schriftliches Austauschen über das Internet) vor dem Computer und werden fett und einsam.
Viele von denen die noch öffentliche Verkehrsmittel benutzen verkriechen sich nicht mehr nur in ein Buch, oder die Zeitung, sondern stöpseln sich auch noch zu, so dass sie gedanklich und akustisch von der Umwelt getrennt sind. Sie zeigen deutlich: "Lasst mich in Ruhe! Ich will mit Euch nichts zu tun haben!" Andere telefonieren so laut, als solle der ganze Wagen mithören, oder aber als seien sie allein und bemerkten die anderen Fahrgäste nicht.
Zugleich klagen viele über ihre Einsamkeit und versuchen sie in Veranstaltungen zu vergessen, bei denen die Zahl der Anwesenden oft wichtiger ist als die Qualität des Gebotenen, denn sie zeigt ja, dass man die richtige Wahl getroffen haben muss, wenn so viele hin gehen. Dass die Chancen dabei jemanden kennen zu lernen nicht sonderlich groß sind, wundert angesichts von Lautstärke und Gedränge wenig. Also werden die optischen Signale immer plumper und greller, egal ob Halbmasthosen, Dekolletés bis zum Bauchnabel, viel bloße Haut, Tätowierungen, grellbunte Haare, Piercing, oder der Griff in die Klamottenkiste mit Lederhosen und Dirndl. Hauptsache ist, man fällt auf und erhöht dadurch die Chancen bemerkt zu werden. Dass eine Verkleidung nicht zwangsläufig dazu führt, dass man geeignete Partner anzieht, wird übersehen.
In der Großstadt kennen heute viele nicht mal alle Mitbewohner im Haus geschweige denn die Nachbarn, oder gar jene auf der anderen Seite der Straße. In manchen Häusern ist ein ständiges Kommen und Gehen, weil die Meisten im Durchschnitt alle drei Jahre die Wohnung wechseln, wobei Jugendliche, die zuhause ausziehen oder studieren natürlich die Statistik in die Höhe treiben und alte Leute, die nicht mehr umziehen mögen und können, das Gegengewicht bilden.
Auch die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnort hat zur Zersplitterung der Gesellschaft beigetragen, genau so, wie auch die oft geforderte Mobilität, die vor allem Familien schadet, wenn Opa und Oma nicht mehr in er Nähe wohnen und die Eltern bei der Aufzucht der Jungen entlasten können, was gerade bei kleinen Kindern sehr wichtig wäre, denn die lernten häufig das Sprechen vor Allem von den Großeltern, weil die mehr Zeit und Nerven haben, als die Eltern, die im Beruf und zuhause stark gefordert sind. Sprechen lernt man eben nur, wenn einem jemand antwortet und nicht von Konserven oder Medien. Auch Vorlesen und Geschichten erzählen sind für die Kleinen wichtig und dafür haben oft Großeltern mehr Zeit. Leben sie jedoch Hunderte von Kilometern entfernt, dann klappt auch das nicht mehr. Dass die Kinder damit auch nicht mehr lernen, mit welchen Marotten man bei Älteren rechnen muss und wie man damit umgeht, kommt hinzu. Alter wird noch fremder, als es das nach der Zahl der Jahre sein müsste. Wer alt ist, meinen Manche, gehört ins Altenheim und von dort möglichst ohne Aufhebens und möglichst ohne die Zwischenstufe Pflegeheim auf den Friedhof.
Kommen Alte zur Hauptverkehrszeit in den Laden, um wenigstens mit ein paar Menschen zu reden, stören sie bloß den reibungslosen Ablauf und erregen den Unwillen derer, die von Beruf und Familie gestresst, keine Zeit für solchen Firlefanz, geschweige denn für langsamere Alte haben. Ihnen sei das alte chinesische Sprichwort in Erinnerung gerufen: "Wer das Alter nicht ehrt, braucht ja selbst nicht alt zu werden."
Wie die Alten, so werden auch die Kinder aus dem Verkehr gezogen, nicht nur, indem "Taxi Mama" sie überall hin fährt, sondern auch indem man Kindergärten und Schulen zu Orten macht, an denen sie den ganzen Tag aufgehoben sein sollen. Dass das Freundschaften in der Nachbarschaft behindert, und so zur Fixierung auf die Schulkameraden führt, was bei jedem Schulwechsel dann auch zu einem Verlust von Freunden führt, das spielt keine Rolle. Jugendgruppen und Vereinsarbeit müssen am frühen Abend stattfinden, da am Nachmittag niemand mehr Zeit hat. Wann kann ein Kind oder Jugendlicher heute noch stundenlang und selbstvergessen spielen, basteln, durch die Natur stromern, oder an einem Bächlein Dämme bauen? Ist der freie Samstag ein gleichwertiger Ersatz für die verlorenen Nachmittage?
Inzwischen ist der Postbote gekommen, im Eilschritt mit einer schweren Karre. Briefträger gibt es heute sogar mehrere von verschiedenen Unternehmen, aber sie verdienen weniger als früher und man kennt sie kaum. Auch hier fällt das Schwätzchen weg und auch das Trinkgeld zu Weihnachten. Dafür werden die Zusteller schlechter bezahlt als früher und können manchmal selbst korrekt adressierte Post nicht zustellen. Ähnliches gilt für die Paketzusteller. Statt einem fahren nun fast ein halbes Dutzend durch die Straße und halten alle paar hundert Meter. Sie sind manchmal so in Eile, dass sie in Mehrfamilienhäusern gleich auf alle Klingeln drücken, damit wenigstens irgend wer öffnet und das Paket annimmt, oder sie quetschen es in den Briefkastenschlitz, nur um es los zu sein. Dass es geklaut werden könnte, interessiert nicht, nur rasch weiter, sonst gibt es keinen Feierabend, oder keine Prämie. Dementsprechend rücksichtslos parken sie auch ihre Zustellfahrzeuge. Sollen doch Blinde, Mütter mit Kinderwägen oder Rollstuhlfahrer sehen, wo sie bleiben. Aber wehe, ein Kind mit Roller, Rollschuhen oder Fahrrad stößt an das auf dem Gehweg stehende Fahrzeug!
Die Reichen haben sich in ihren Villen hinter hohen Zäunen verbarrikadiert, zu denen man erst Zutritt erhält, wenn man vom Kameraauge beobachtet sein Anliegen an der Gegensprechanlage geäußert hat. Sie fahren mit ihrem Wagen durch das automatisch geöffnete Hof- oder Garagentor und ebenso in der Tiefgarage ihrer Firma. So muss man der Armut nicht ins Auge sehen, die man zum Teil mit verursacht hat. Die Armen werden sowieso an den Stadtrand oder in Ghettos abgedrängt, indem man die alten Häuser in der Innenstadt entweder abreißt, oder so teuer saniert, dass die ursprünglichen Bewohner nicht mehr bleiben können. Gewinnmaximierung zu Lasten der Allgemeinheit macht schließlich reich. Wer sich bemüht anständig zu bleiben und das Gemeinwohl mit bedenkt, wird es höchstens zu bescheidenem Wohlstand bringen.
Die Zahl der Vollerwerbsarbeitsplätze sinkt und wird durch Zeitarbeitsplätze oder Billiglohnjobs ersetzt. Immer mehr Leute verarmen, selbst, wenn sie mehr als einen Arbeitsplatz haben. Für die  Begegnung mit Anderen, Kindern, Nachbarn, Alten bleibt ihnen noch weniger Zeit. Dafür wachsen die Sozialausgaben des Staates durch Arbeitslosigkeit und Billiglöhne, weil er immer mehr Menschen unterstützen muss. Bei immer mehr Menschen nicht nur während der Zeit, in der sie arbeiten, sondern auch später in der Rente. Andere dagegen verspekulieren den Sparpfennig der Arbeitnehmer und wollen dann mit Steuergeldern gerettet werden. "Ein Banker kennt den Preis von Allem, aber den Wert von nichts," sagt man in England. Dass gesunde Unternehmen zerstört werden, weil irgend wer durch ihre Zerschlagung noch mehr Geld verdienen kann und die Allgemeinheit dann wieder die Folgekosten zahlen soll, zeigt, dass da Einiges falsch läuft. Die Mitarbeiter, die das Unternehmen getragen und groß gemacht haben, stehen plötzlich als die Dummen da, während der Zerstörer sein Bankkonto füllt.
Diese Entsolidarisierung von Oben hat allerdings Ausmaße erreicht, die das gesamte System gefährden, denn wenn die grundlegende Bedürfnisse der Menschen nach Nähe, nach Freundschaft, Familie und Sinn, durch Anerkennung ihrer Leistung für das Ganze nicht mehr befriedigt werden, schwindet zunächst die Loyalität und jeder schaut selbst wo er bleibt, was die Zersplitterung noch weiter beschleunigt. Aber irgend wann geht es nicht mehr weiter und Körper und Seele rebellieren und die Zahl der Krankheiten steigt, die durch solchen Mangel hervorgerufen werden. Damit steigen die Kosten des Gesundheitswesens.
Andere werden so ärgerlich, dass sie sich zusammen tun und gegen Dinge protestieren, die sie für falsch halten, oder die ihre Lebensqualität mindern (z.B. Atomkraft, Gentechnik, Stuttgart 21). Dabei stellen sie in Wirklichkeit die Frage: "Wie wollen wir leben?" Sie haben erkannt, dass die Zersplitterung der Gesellschaft nicht nur die Meisten ihrer Mitglieder unglücklich macht, sondern obendrein unbezahlbar ist, weil sie die Gesundheit ruiniert und die Funktionstüchtigkeit des Systems zerstört.
So gesehen sind die vielen Erkrankten ein Warnsignal und die Proteste ein ermutigendes Zeichen, das zu Änderungen aufruft, die dem Überleben der Gemeinschaft und dem Wohl kommender Generationen dienen sollen. Darin liegt eine große Chance die sich anbahnende Katastrophe abzumildern oder gar zu vermeiden und gleichzeitig ein neues gesünderes "Wir-Gefühl" für jeden Einzelnen in der Gesellschaft zu wecken, so dass jeder sich wieder als wertvoller Teil eines größeren Ganzen fühlen kann, was für seine Gesundheit genau so wichtig ist, wie die Nähe der Menschen, mit denen er zusammen lebt.
 
Das Bild zeigt moderne abweisende Architektur. Die Bank im Vordergrund wurde später wieder entfernt, da direkt davor eine vierspurige Straße braust, an der sich wohl niemand niederlassen würde, denn erstens verstünde man sein eigenes Wort nicht und zweitens befindet sich gegenüber eine riesige Brache die in den nächsten Jahren zur Baustelle wird.
 
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Dienstag, 10. Mai 2011