Wo jeder Fünfte nichts zu suchen hat
 
Ausgeschlossene Gesellschaft
"Wir dürfen hier nicht rein" weist ein Schild an manchen Gaststätten Hundebesitzer ab. Wegen der Hygiene und mancher Herrchen und Frauchen, die ihre Hunde nicht erzogen haben, mag das verständlich sein.
Dass Menschen mit wenig Geld an vielen Orten ebenso nicht erwünscht sind, wird weniger deutlich signalisiert, wenn man mal von Preisschildern absieht, die unmissverständlich mitteilen, dass man in diesem Geschäft tunlichst nur mit prallem Geldbeutel oder Kreditkarte einzutreten habe. Wie viele Orte für Arme zwar zugänglich, aber nicht nutzbar sind, soll ein kleiner Stadtrundgang zeigen. Dabei sei "arm" mal ungefähr mit dem Satz der staatlichen Leistungen beschrieben, die angeblich ein gesundes Leben und Teilhabe am sozialen Leben garantieren sollen, also etwa 350-400 Euro im Monat für Ernährung, Kleidung, Transport, Bildung und Freizeit. Theoretisch sollen davon auch noch kleine Summen gespart werden, um Ersatz beschaffen zu können, wenn etwas kaputt geht, z.B. der Kühlschrank, oder Radio und Fernseher.
(Letzterer darf nicht gepfändet werden, aber die Rundfunkgebühren erlässt der Staat den Armen zu Lasten der öffentlich rechtlichen Sender, die dadurch in manchen Regionen erhebliche Einbußen erfahren. Die Politik hat hier die Sender zu einer sozialen Maßnahme verpflichtet, die Politiker und den Staat nichts kostet, aber ihr das Wohlwollen der Armen sichert.)
Wenig Geld = arm
Angenommen es blieben dem Armen für Ernährung, Bildung und Freizeit 300 Euro übrig, dann wären das zehn Euro am Tag. Beginnen wir unseren Stadtbummel mit dem armen Konrad am Bahnhof. Die teuren Läden in der Klettpassage (Zwischengeschoss zwischen Straßen- und S-Bahnen und Oberfläche) kann Konrad zwar anschauen, aber kaufen sollte er lieber nichts. Weder beim Bioladen, noch beim Bäcker, Fleischer oder Blumenladen. auch der Zeitungskiosk, der Schnellimbiss oder die Boutique sind unerschwinglich. Am ehesten wäre noch der Selbstbedienungsbäcker bezahlbar. Friseur und Tabakladen lässt Konrad lieber links liegen. Falls er ein Mobiltelefon hat, so wird er dennoch kaum in den Handyshop gehen, um ein neues zu erwerben, denn jede unnötige Ausgabe muss vermieden werden.
Konrad überlegt ob er nun lieber in die Lautenschlagerstraße gehen soll mit teurem Esslokal und Fahrradladen, oder lieber in die Stefanstraße, diese Passage mit dem Elektrogeschäft, dem Kofferladen, dem Schlüssel- und Absatzdienst, der Reinigung, Tanzschule und dem Kaufhaus, oder die Fußgängerzone Königsstraße mit Telefonläden, Kaufhäusern, Schuhfachgeschäft, Feinkostläden und Cafés. Nur in die Apotheke könnte er ruhigen Gewissens, wenn er ein Rezept hätte und Medikamente bräuchte. Nicht mal beim Brezelkörble oder dem Crepes-Stand kann er sich eine Kleinigkeit leisten, ohne das Tagesbudget zu gefährden. Sportgeschäft, Bank, Schmuck und Modegeschäfte, alles nichts für ihn. Auch der riesige Buchladen links, oder die Kinos rechts sind finanziell gesehen "weiße Flecken" auf seiner Landkarte, oder bestenfalls schöne Erinnerungen. Immerhin die Kirche verlangt nichts für die Stille im Gotteshaus und das Sitzen auf den harten Bänken. Sie bietet sogar kostenlose Seelsorge. Auch Straßenmusikanten sind gratis, aber Konrad schämt sich längere Zeit zuzuhören und dann nichts zu geben. Manche sind echte Künstler, aber auch für sie dürften viele Läden unerschwinglich sein.
Öffentlicher Raum
Die Straßenlokale werben zwar mit niedrigen Preisen, aber für Konrad liegen die immer noch jenseits seiner Möglichkeiten. Auch am Schlossplatz sind für ihn nur die Parkbänke oder der Rasen erschwinglich, nicht aber die Cafés, mit ihren gedeckten Tischen, geschweige denn die vornehmen und teuren Läden im Königsbau und dahinter. Immerhin kann er sich auf seine Stufen setzen und den prächtigen Platz genießen und dem Strom der Passanten zuschauen. Aber Hunger oder Durst sollte er nicht bekommen. Und dabei futtern und trinken viele der Vorbeigehenden.
Natürlich hätte er am Bahnhof auch gleich in den Park gehen können, vorbei am Nobelhotel mit dem Roten Teppich, das er wohl nie betreten wird, es sei denn durch den Personaleingang, wenn er dort arbeiten würde. Auf der Liegewiese hätte er sich sonnen können, aber dazu muss er nicht in die Stadt gehen. Futter für die Enten im See hätte er sowieso keines gehabt und außerdem ist es verboten, weil durch das viele Futter das Wasser verdreckt. Aber Enten und Schwänen zuschauen ist billiger als in den Zoo zu gehen. Die Theater, die Oper und dahinter die Galerie sind für ihn und seinen Geldbeutel ganz weit weg. Ebenso am Schlossplatz die Museen oder Restaurants. Er kann sich höchstens im Vorraum Werbematerial mitnehmen, damit er weiß, was er verpasst, oder womit sich andere Leute beschäftigen.
Konrad hat genug von den teuren Läden und geht deshalb zum Schillerplatz mit seinen alten Gebäuden, dem Schillerdenkmal und dem alten Schloss. Die Stiftskirche ist nur manchmal geöffnet, aber immerhin bietet sie Ruhe und Einiges für das Auge. Ebenso der Innenhof des Alten Schlosses, aber das Café dort, das so gemütlich mit seinen Sonnenschirmen einlädt, muss er meiden.
Wenn ihm danach zu Mute ist, bewundert er in der Markthalle was es alles zu Essen gibt, oder im Obergeschoß, wie viel Geld Leute für Sachen auszugeben bereit sind, von denen er nicht mal träumt, weil er gar nicht wüsste, was er damit anfangen sollte. Eine exotische Welt, die er aber nur an guten Tagen betreten kann, sonst macht sich die Frage nach der Gerechtigkeit, ja sogar Neid bemerkbar und verdirbt ihm den Tag.
Flohmarkt zwischen Recycling und Touristenmagnet
Samstags lockt der Flohmarkt auf den Karlsplatz. Was es da alles zu sehen gibt. Hin und wieder sieht Konrad auch etwas, was er selbst ebenfalls verkaufen könnte, altes Spielzeug, Silberlöffel der Großeltern, kaum noch gebrauchtes Geschirr, alte Teppiche, Werkzeug, alte Schallplatten und Bücher oder Postkarten. Das Bettenfachgeschäft und das Nobelkaufhaus lässt er links liegen und ebenso den Schuhladen rechts. Auf dem Marktplatz kann er an Markttagen manchmal etwas Obst oder Gemüse billig bekommen, wenn die Händler keine Lust haben Unverkäufliches wieder mit nach Hause zu nehmen. Im Rathaus gibt es manchmal kostenlose Ausstellungen, oder das riesige Modell der Stadt, das auch den geplanten neuen Bahnhof zeigt. Wofür man über vier Milliarden ausgeben soll, wenn's doch der alte Bahnhof auch täte, versteht er nicht. Da war die Altstadtsanierung vor über hundert Jahren beim Hans-im-Glück-Brunnen schon sinnvoller. Auch hier kann er in keinem der Lokale verweilen. Kaffee, Sprudel, Saft oder Bier reißen mit über zwei Euro einfach zu große Löcher in den Etat.
Er hat Toast gefrühstückt, dessen lange Stange 49 Cent kostet und fast eine Woche reicht. Den Vollkorntoast zu 1,39 im Bioladen traut er sich nur selten zu kaufen. Er hat einen scharfen Blick für Sonderangeboten entwickelt. An seinem Geburtstag leistet er sich nachmittags Kaffee und Kuchen auf der Dachterrasse eines Kaufhauses mit schönem Blick auf Stiftskirche und den Hang nach Degerloch. Das Sonderangebot kostet dort 4,50, aber einmal im Jahr muss das drin sein. Die Tageszeitung hat er schon lange abbestellt. Wo es was besonders billig gibt, verraten ihm das kostenlose Wochenblatt und die vielen Werbeblättchen, die seinen Briefkasten verstopfen.
Der arme Konrad überlegt wohin er nun weiter gehen soll: Über den Wilhelmsbau, die Marienstraße hinauf zur Karlshöhe mit ihrem herrlichen Blick, oder durch die südlichen Viertel hinauf zum Bopser und dem Park der ehemaligen Villa Weißenburg, oder in den ruhigen Hoppenlaufriedhof, oder in den Stadtgarten bei der Uni. Die Calwerstraße mit ihren Lokalen und Düften meidet er lieber, ebenso die Computerläden und Fotogeschäfte, oder die riesigen Baustellen, wo man zwar beim Abriss zuschauen kann, aber das macht doch eher traurig, wenn man sieht, was da alles abgerissen und weggeworfen wird, was man selbst gerne noch benutzen würde, wenn man nur dürfte und könnte. Und die Bauarbeiter, die oft von weit her kommen und ihre Gesundheit bei Wind und Wetter für Billiglöhne ruinieren, stimmen ihn auch nicht froh.
Hoffentlich hält das Wetter
In der Stadtbibliothek am Charlottenplatz geht er manchmal bei schlechtem Wetter zum Zeitunglesen. Früher war in manchen Museen der Eintritt frei. Heute müsste er sich dafür eine Bonuskarte besorgen. Sicher eine gut gemeinte Idee, aber früher, der freie Eintritt war ihm lieber. Da musste er niemand nachweisen, dass er arm ist und warum. Immerhin der Killesbergpark kostet heute keinen Eintritt mehr. Auch ins Lapidarium - einen alten Garten mit Steindenkmälern, in der Mörikestraße kommt man umsonst. Und wenn man gut zu Fuß ist, oder eine verbilligtes Abo für den Öffentlichen Nahverkehr besitzt, kann man viele schöne Spaziergänge rund um die Stadt machen. Da fällt dann ein Rucksack mit Trinkflasche und Vesperbrot auch kaum auf. Dort in der Natur begegnet man nicht ständig Leuten mit prallen Einkaufstüten, die von Orten kommen, die man selbst tunlichst nicht betritt, weil man sonst ganz deutlicher spürt, dass man mit so kleinem Geldbeutel dort nicht willkommen ist. Das Personal lässt es einen vielleicht nicht mal spüren, aber die Preisschilder und Waren, oder die luxuriöse Ladeneinrichtung. Dort draußen in den Vororten, Schlafstädten und der Natur stört auch Konrads robuste einfache, an manchen Stellen abgetragene, Kleidung weniger und er spürt weniger deutlich, dass er nicht mehr dazu gehört, außer wenn Radler und Jogger in modischen bunten Verkleidungen am armen Konrad vorüber eilen. So eilig hat er es nicht und hier draußen findet  noch das statt, was der Gesetzgeber Teilhabe am sozialen Leben nennt, denn die Mücken stechen ohne Ansehen der Person.
 
Armut in Deutschland:
Von zehn Deutschen konnten 2010 fünf arbeiten (die anderen Fünf sind zu jung, zu alt, oder krank.) Von den fünf Arbeitsfähigen ist aber einer arm, sei es, weil er keine Stelle bekommt, sei es weil der Lohn nicht zum Leben reicht. Das wirkt sich auch auf seine Kinder oder seine Rente aus. Also ist zu erwarten, dass von den Fünfen, die nicht arbeiten können, ebenfalls einer arm ist. Das bedeutet, dass über 16 Millionen (jeder fünfte Mensch!) in Deutschland arm sind. Übrigens: Viele Studenten zählen statistisch auch zu den Armen.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 22. April 2011