Die Schrift am Himmel
Kondensstreifen
 
Drei Flieger, die in dieselbe Richtung fliegen, hinterlassen am Morgenhimmel drei längere Anführungsstriche, die ein wenig seitlich hintereinander versetzt sind. Da oben eilen also ein paar hundert Leute einem Ziel zu, das sie auf dem Boden nicht so schnell erreichen würden. Ob sie es am Boden vielleicht bequemer erreichen könnten, etwa in einem Zug mit großzügiger Innenaufteilung, mit Speisewagen, ja vielleicht Salon, Sekretariat oder Schlafwagen, wer weiß? Solche Züge gibt es fast nicht mehr, wenn man von Nostalgiefahrten und angeblich dem neuen Italo absieht. Offenbar nehmen die meisten für Schnelligkeit die langen Anfahrten aus der Stadtmitte zum Flughafen, die entwürdigenden Kontrollen und das Eingepfercht-sein in einer lauten Kabine lieber in Kauf, als eine Fahrt im Schlafwagen.
Neben der Schnelligkeit dürfte auch eine Rolle spielen, dass dem Fliegen immer noch der Ruf von etwas Besonderem, von Wichtigkeit der Person anhaften, wenn schon die Exklusivität längst auf der Strecke blieb. Vielleicht ist es auch der für Manche angenehme Nervenkitzel beim Abheben und Landen, oder der Reiz auf die am Boden gebliebenen herabschauen zu können, das Herausgehoben sein aus dem Alltag, was den Reiz des Fliegens ausmacht. Sicherlich ist Fliegen ein alter Traum des Menschen, den sich heute viel mehr Menschen erfüllen können, als früher.
  Da die negativen Auswirkungen des Fliegens, krankmachender Lärm in der Nähe von Flughäfen, Verbrauch fossiler Rohstoffe, höhere Bestrahlung der Passagiere, Luftverschmutzung und Wolkenbildung (5-7% der Wolken über Deutschland stammen von Kondensstreifen), die die am Boden in den Schatten stellt, nicht in den Flugpreis einbezogen werden, ja das Fliegen durch steuerfreies Kerosin begünstigt wird, muss man sich über die Dumpingpreise der Luftfahrtgesellschaften nicht wundern. Geiz ist auch hier nicht geil, sondern asozial.
  Dementsprechend zerkratzt sieht der Himmel bei für Kondensstreifen günstigen Wetterlagen aus. Ein wolkenlos blauer Himmel war schon früher selten, aber heute ist er eine Rarität. Die Schrift am Himmel signalisiert denen unten: Wir nehmen keine Rücksicht auf Euch, wir sind so wichtig, dass ihr eben auf das bisschen Sonne und den blauen Himmel verzichten müsst. Versetzt man sich aber in die Lage einer Menschengruppe, die keinen Kontakt zur modernen Zivilisation hat, dann wird einem erst bewusst, dass wir uns überhaupt nicht mehr wundern, wenn statt rundlicher Wolken gerade Striche den Himmel zerteilen, dass nachts Lichtpunkte über den Himmel eilen, die man früher als Meteore und Kometen bestaunt hätte, oder dass solche Lichtpunkte an Winterabenden in Flughafennähe im Zweieinhalb-Minuten-Takt am Himmel auftauchen und eine Reihe bilden, die sich auf ein Ziel hin bewegt und aus Landescheinwerfern der Flieger besteht. Auch das ist eine Form der Schrift am Himmel.
  ”Mene tekel up arsin" (gewogen und zu leicht befunden) soll die Schrift an der Wand im Zweistromland verkündet haben. Das war damals ein erschütterndes Wunder. Heute steht die Schrift am Himmel und ist für die meisten sichtbar, aber lesen können wir sie anscheinend auch nicht, denn den Hinweis auf die menschliche Hybris, den sorglosen Umgang mit dieser begrenzten Erde und ihren begrenzten Schätzen, den will keiner lesen.
  Verzicht aufs Fliegen würde bedeuten: Weniger Bequemlichkeit, keine schnellen Einkaufstrips am Wochenende, kein Erreichen des Urlaubsortes innerhalb weniger Stunden, kein Besuch bei Freunden, Eltern oder Kindern in fernen Ländern (wobei ungewiss ist, ob die ohne Flieger dort überhaupt hin gezogen wären), keine Geschäftsreisen mal eben in die Hauptstadt oder zum Kunden.
  Aber man würde auch etwas gewinnen: Man könnte die Landschaft betrachten, durch die man fährt, die Entfernung und die andere Lebensart in anderen Gegenden, ihre Baustile, Landwirtschaft, ihre Wälder und Fabriken würden sichtbar. Bus und Bahn bringen einen fast in jeden Ort, während es nur nahe den Ballungszentren Flughäfen gibt. Das erlaubt auch fast überall eine Unterbrechung der Reise. Man könnte in der Ortsmitte am Bahnhof losfahren und ankommen und sparte sich An- und Abfahrt zum Flughafen, die lästigen Kontrollen samt Abtasten und halbem Striptease. Statt am Platz still zu sitzen und abgespeist zu werden, könnte man durch den Zug zum Speisewagen gehen und dort gemütlich am Tisch essen. Dass die Bahngesellschaften da noch besser werden könnten, ist unbestritten (Gepäckträger, Gepäcktransport und Zustellservice würden vor allem Älteren oder Eltern mit kleinen Kindern helfen, ebenerdige Zugänge zu Zügen, wie bei der S-Bahn, hülfen ihnen und Behinderten ebenfalls.).  
  Kurzum, die Wahl des Verkehrsmittels, der Reisedauer und der Tätigkeiten während der Reise beeinflusst eben auch, ob man nur transportiert wird, ein Beförderungsfall ist, oder ob man die Reise selbst schon als bereicherndes und beglückendes Erlebnis gestaltet, ja sich vielleicht bereits auf der Reise erholt, oder ein Treffen vor- oder nachbereitet.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 27. April 2012