Journalist oder Märchenerzähler?
 
"Wenn das, was gesagt wird, nicht das ist, was gemeint ist, dann weiß das Volk nicht was es tun soll und Alles kommt durcheinander. Deshalb dulde man keine Willkür bei den Worten!" So ungefähr forderte Konfuzius schon vor rund 2500 Jahren. Dieser Forderung müssten sich eigentlich vor allem die Medien stellen. Doch die tun sich - auch dank unverstandener Anglizismen - damit schwer:
Das englische Wort „Story“ bezeichnet im Deutschen so verschiedene Dinge wie Artikel, Geschichte, Erzählung, Mär und Schwank, also sowohl journalistisch Informierendes als auch belletristisch Unterhaltendes. Entsprechend schwer tun sich Wissenschaftler, aber auch Journalisten, wenn sie ins Deutsche zurück übersetzen. Da wird dann aus „on stage“ (auf der Bühne, sichtbar) und „backstage“ (hinter den Kulissen, unsichtbar) „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“, die aber im Theater beide sichtbar sind. Sprache, vor allem fremde Sprache, kann also zu ziemlicher Verwirrung führen.
Dabei wollte der Journalismus-Forscher eigentlich nur darauf hinweisen, dass man um das sichtbare Geschehen zu verstehen, auch das Unsichtbare mit betrachten müsse. Dann zeigt sich nämlich, dass etwa „Hart aber fair“ kein Gespräch zwischen Gleichberechtigten und gleich Starken meint, sondern eine Verhörsituation schafft, bei der der Moderator den Inquisitor gibt, dem es gar nicht so sehr um die Aufdeckung der Wahrheit geht, sondern darum, Konflikte zu erzeugen, die die Einschaltquote in die Höhe treiben. Man könnte das eine Art Dschungelkamp für Intellektuelle nennen.
Journalismus-Forschung muss heute immer öfter „investigativ“ oder mit kriminalistischen Methoden vorgehen, um heraus zu bekommen, was wirklich geschah, wie ein Medienprodukt zustande kam. So war das veröffentlichte Interview des ehemaligen Verteidigungsminister Scharping zu seiner Plantscherei mit Freundin auf der Titelseite einer Illustrierten die fünfte Fassung, und nicht, wie dem Leser vorgespiegelt wurde, einfach eine Niederschrift des Gesagten. Erst ein Vergleich der Originalniederschrift mit den weiteren Fassungen zeigt, dass sich Journalist und Minister zunächst ganz locker und in nicht immer druckreifer Sprache unterhielten und dem Minister dann die von allen persönlichen und vertraulichen Bemerkungen gereinigte erste Fassung zur Autorisierung vorgelegt wurde.
Der Minister durfte also kontrollieren, was der Journalist geschrieben hatte. Diese seltsame Praxis hat sich im Dunstkreis der Mächtigen und ihrer Hofberichterstatter breit gemacht und verrät etwas über die symbiotische Beziehung von Journalisten und Mächtigen. Es gibt daneben aber auch Journalisten, die sich nie auf eine Autorisierung einlassen würden, muss zur Ehrenrettung des Berufes angemerkt werden.
Dass beim Autorisieren schon mal eine Aussage ins Gegenteil verkehrt wird, weil der Pressesprecher des Mächtigen meint, dass irgend jemand diese Aussage sonst übel nehmen könnte, wundert da kaum noch. Höchstens, dass Journalisten das mitmachen. Diese bedenkliche Nähe zur Macht zeigte sich auch bei der Affäre um die Vorgänge auf der Gorch Fock: Laut Journalismusforschern saß der Chefredakteur eines Boulevardblattes im selben Pkw, als der Verteidigungsminister den Kapitän kalt stellte. Genau dieses Boulevardblatt hatte die Affäre tagelang am Köcheln gehalten.
Wer von beiden, Minister oder Chefredakteur, war hier nun der Nutznießer, wer der Treibende, wer der Getriebene, wer hat vor wem Angst? Diese Kumpanei mit Mächtigen findet sich vor allem rund um Regierungen, die in Hintergrundgesprächen ihnen wohl gesonnene Journalisten beizeiten über Kommendes informieren. Wer Distanz hält, bleibt von Pressereisen, Hintergrundgesprächen und anderen Vergünstigungen ausgeschlossen.
Natürlich bemerken aufmerksame Mediennutzer, dass in Sendungen, wie „Hart, aber fair“ die Vorgeladenen durch den Druck, der auf sie ausgeübt wird, verschlossener werden. Sie werden auf ihre Rolle als Angeklagte reduziert und reagieren entsprechend. Würde man sie als Menschen in ihrer ganzen Vielseitigkeit zeigen, durch die Gestaltung der gesamten Sendung eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre schaffen, dann entstünde Offenheit, die vielleicht sogar tiefere Einblicke erlaubte, aber das brauchte mehr Zeit und für die Einschaltquote ist Konfrontation besser.
Ein Teil der Politikverdrossenheit könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass durch die Art und Weise, wie Medien berichten, Politiker häufig auf ihre Rolle als Amtsträger verkürzt werden, so dass ihre menschliche Seite gar nicht mehr wahrgenommen werden kann.
Das ist aber nicht nur ein Problem der Medien, sondern auch der Wahrnehmung. Jeder Mensch bewertet das, was er sieht, hört oder liest vor dem Hintergrund seiner gesammelten Lebenserfahrung. Die ist natürlich von Mensch zu Mensch verschieden. Genauso ist der Wortschatz unterschiedlich. Sobald wir in ein Land mit unbekannter Sprache reisen, erleben wir Schrift wie ein kleines Kind: Wir sehen die Zeichen, aber wir wissen nicht, was sie bedeuten.
Ganz schwierig wird es beim Übersetzen von Fremdsprachen, wie eingangs erwähnt. Deshalb kann Sprache kein exaktes Abbild der Wirklichkeit vermitteln. Sie ist vielmehr der Versuch sich darüber zu einigen, was die Wirklichkeit sei. Schon der Tratsch dient dazu, sich eine Meinung über die Wirklichkeit zu bilden. Journalisten können also nicht mehr, als - unter Benutzung ihres Handwerkszeuges  -ein möglichst genaues Bild der Welt zu erzeugen. Aber dieses Bild ist und bleibt eine Konstruktion und darf nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden.
Normalerweise, sagt die Sozialwissenschaft, bewertet man sich selbst günstiger, gnädiger, vorteilhafter als Andere. Das Gleiche gilt für Gruppen. Die eigene Gruppe wird als besser erlebt als andere Gruppen. Das ist bis zu einem gewissen Grade notwendig, weil das den Gruppen eine gewisse Stabilität verleiht und dem Einzelnen das Gefühl gibt, sich richtig entschieden zu haben. Andernfalls könnten sich Gruppen bei jeder neuen Information, die sie mal besser, mal schlechter erscheinen ließe, einem ständigen Wechsel von Zulauf und Flucht unterworfen sein,was ihre Funktionsfähigkeit stark beeinträchtigen würde.
Diese gewisse Voreingenommenheit für die eigene Person, die eigene Familie, die eigene Gruppe, den eigenen Verein oder Verband, das eigene Land findet man in vielen Medien gespiegelt, weil erstens den meisten Journalisten dieses Wissen fehlt und zweitens sie beim besten Willen nicht ständig in der Lage sein werden, die eigene Voreingenommenheit einzukalkulieren. Das führt unter anderem dazu, dass Medien um so mehr auf eigene Mythen (z.B. Aschenputtel für einen unerwarteten Aufstieg) zurückgreifen, je ferner und schwerer verständlich ein Ereignis ist.
Medien haben die Aufgabe die verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft zu beobachten und daraus ein möglichst allgemein gültiges Bild der Wirklichkeit zu schaffen, dass dann das Handeln der Gruppen im Idealfall so orientiert, dass es dem Gemeinwohl dient. Medien haben also auch eine Funktion von sozialem Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Das erklärt zum Teil, weshalb auch Diktaturen Medien brauchen, und sei es nur, um ihre Sicht der Dinge allen Untertanen zu vermitteln.
Medien versuchen also durch konstruierte Bilder, die Wirklichkeit im Idealfall (ohne Zensur) möglichst genau darzustellen. Dabei benutzen sie Symbole, etwa den Sturz einer Statue von Saddam Hussein anlässlich des Endes seiner Herrschaft, wobei den Mediennutzern nicht verraten wird, dass sie direkt vor dem Hotel stand, in dem die gesammelten Medienleute untergebracht waren, es sich also um ein inszeniertes Ereignis handelte. Deshalb ähneln sich manchmal die Darstellungen in allen Medien auffällig.
Da aber Hören, Sehen und Lernen schöpferische Vorgänge sind, weil der Mensch dabei das Wahrgenommene mit dem in Verbindung bringt, was er schon kennt, konstruiert er allein schon damit ein Bild von der Wirklichkeit. Das führt bei der Wiedergabe, also beim Sprechen oder Schreiben dazu, dass etwas einen Namen bekommt, benannt wird, ausgesprochen wird, also eine Bedeutung bekommt als eine Konstruktion von Wirklichkeit. Die Medienleute haben gegenüber den Tratschenden das Problem, dass sie sich möglichst kurz fassen sollen, also eigentlich nur eine Skizze liefern können, wie die Wirklichkeit aussehen könnte.
Schon ein Wort kann da allerdings zu einer ganz anderen Bedeutung führen, je nachdem in welchem Umfeld es geäußert wird. Wer unter Hitler Stauffenberg einen Freiheitskämpfer genannt hätte, riskierte sein Leben, genauso wird schief angesehen, wer ihn heute als Terrorist bezeichnet. Derselbe Mann, dieselbe Tat, aber in anderem politischen Umfeld erhalten einen ganz anderen Namen. Wenn Journalisten das aber nicht bedenken - und dazu fehlt ihnen oft die Zeit - dann können Aufständische schon mal als Freiheitskämpfer oder Terroristen betitelt werden, vor allem, wenn ihre Motive noch gar nicht klar sind. Genauso haben die amerikanischen Medien nach dem Anschlag auf das World-Trade-Center sehr rasch die Sprachregelung der Regierung übernommen, dass man nun einen „Krieg gegen den Terror“ führen werde, ohne zu bedenken, dass das ja gar nicht geht, eben weil Terror heimlich vorbereitet wird, ein Krieg aber in der Regel erklärt und offen sichtbar geführt wird. Dahinter steckt vermutlich das schon erwähnte Bedürfnis nach Zugehörigkeit zur besseren, stärkeren Gruppe; das „Zusammenstehen in Zeiten der Not“.
In den deutschen Medien lassen sich seit einigen Jahren zwei Trends feststellen:
Sparen und die Aufforderung zum „Story telling“.
Das Sparen merkt der Nutzer, wenn Lokalausgaben verschwinden, wenn er in immer mehr Blättern denselben Artikel und dieselben Bilder findet, wenn im Layout immer mehr Weiß rund um Texte und Bilder zu finden ist, wenn die Zahl und Größe der Bilder - und mögen sie noch so inhaltsleer sein - zunimmt, und die Texte kürzer werden. Auch schlampige Sprache, Irrtümer, doppelter Abdruck und Fehler nehmen zu.
Die freien (also nicht durch Anstellung abgesicherten) Journalisten merken es durch weniger Aufträge, zunehmende Verarmung, Ausscheiden von Kollegen aus dem Beruf oder den Wechsel auf die Seite von Öffentlichkeitsarbeit und Werbeagenturen. Beim zweitgrößten öffentlich- rechtlichen Sender der Welt erstellen freie Journalisten, Kamera- und Tonleute etwa 80% des Programms, erhalten aber weniger als 10 % vom Umsatz dieses Senders. Der durchschnittliche freie Journalist verdient monatlich 2000-2500 Euro brutto, also etwa 1000 Euro weniger als man durchschnittlich in Deutschland verdient, wenn man eine Vollzeit-Stelle hat. Dabei nimmt die Arbeitsbelastung zu, da meist auch eine weitere Fassung für das Internet produziert werden muss.
Der Zwang zum Sparen hat mindestens vier Ursachen:
Seit dem Beginn des Privatfunks hat sich die Zahl der Programme vervielfacht. Damit bleibt für das einzelne Programm weniger Geld übrig. Dadurch wird die Konkurrenz verschärft und jedes Programm versucht, möglichst viele Nutzer zu erreichen. Die Politik hat das unter dem Begriff „Einschaltquote“ auch zum Maß fast aller Dinge in den elektronischen Medien gemacht. Damit wandelte sich aber der Programmauftrag: Statt einer möglichst abwechslungsreichen und erfrischenden bunten Mischung, die jedem etwas bringt, mussten die Programme nun auf Zielgruppen, wie sie die Werbung schon lange nutzt, ausgerichtet werden und diese Zielgruppen galt es an das Programm zu binden.
Dass bei diesem Wettlauf um die Nutzergunst die Öffentlich Rechtlichen Sender ihrer gemeinnützigen Aufgabe nicht mehr gerecht werden können, wurde großzügig übersehen. Die private Konkurrenz konnte sehr viel skrupelloser das Niveau auf den kleinsten gemeinsamen Nenner absenken und nur noch Tophits, Ratespiele, Comedy und Blabla zum Nebenbeihören liefern. Die Öffentlich-Rechtlichen versuchten nachzuziehen, ohne ihren Programmauftrag ganz aus den Augen zu verlieren, indem sie für jede Zielgruppe ein Programm schufen, das im Idealfall nicht viel kosten sollte, da die festgelegten Rundfunkgebühren ja nur durch Werbeeinnahmen ergänzt werden können.
Der Werbung waren diese auf Zielgruppen ausgerichteten Programme sehr willkommen, da man so für weniger Geld die Umworbenen gezielter ansprechen konnte, weil die Zahl der Programmnutzer auch den Preis der Werbung bestimmt (Tausend-Leser / Hörer / Zuschauer-Preis).
Neben diesem Verdünnungseffekt - mehr Programme für dasselbe Geld - kamen zweitens die Wirtschafts- und Finanzkrisen hinzu, die den Traum vom ständigen Wachstum beendeten, auf Grund dessen man immer mehr auf Pump finanziert hatte. Und drittens führt die nicht mehr wachsende, aber alternde Bevölkerung dazu, dass eher weniger Geld für einzelne Medien verfügbar ist, da viertens durch neue Medien wie das Internet, den etablierten Medien Werbeeinnahmen verloren gehen und die Mediennutzer zudem neue Geräte (Computer, Mobiltelefon, MP3-Abspielgeräte) kaufen mussten, die ihre Aufmerksamkeit von den alten Medien teilweise abzog.
Da Qualität Geld kostet, sinkt durch den Zwang zum Sparen zugleich die Qualität. Das merken die Nutzer und entziehen den Medien (wie auch der Politik) zunehmend das Vertrauen und damit das Geld. In Stuttgart etwa erlitten beide Lokalzeitungen durch Abbestellungen wegen der Berichterstattung zu Stuttgart 21 Verluste. Und spätestens hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Wenn durch Sparen die Qualität sinkt, dann führt das zum Vertrauensverlust und damit zu wirtschaftlichen Verlusten, die den Spardruck weiter erhöhen. Eine gefährliche Abwärtsspirale!
Das steckt zum Teil auch hinter den Aussagen, dass ein großes Zeitungssterben bevor stünde, ja die Zeitung keine Zukunft mehr habe. Natürlich versuchen die Verlage, die gegenüber Wissenschaftlern schon mal zugeben, dass ihre Journalisten heute weniger Zeit haben, ein Thema gründlich zu beschreiben, diesem Trend entgegen zu wirken. Um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, werden Quellenangaben gemacht, wird Einblick in Redaktionskonferenzen gewährt, werden Leser zu Diskussionen eingeladen, kurz, man gibt Einblicke in die Produktion oder aber man personalisiert die Artikel, indem man Fotos vom Autor zeigt, oft auch seinen Lebenslauf oder seine E-mail-Adresse angibt und im Internet unter dem Artikel Raum für Kommentare und Diskussionen schafft.
Dieses Bemühen um Vertrauen durch Transparenz wirkt nur teilweise. In der gedruckten Ausgabe fördern Hinweise auf die Produktion wie etwa Quellenangaben das Vertrauen, im Internet, wo der Link ja nur wieder zu weiteren - potentiell manipulierbaren - Seiten führt, jedoch nicht. Dort wirkt nur vertrauensfördernd, wenn da jemand ist, der seinen Kopf für die Geschichte hin hält.
Nun (endlich) zum zweiten Trend, dem „story telling“.
Im Englischen ist der „storyteller” ein Märchenerzähler und „story telling” steht für Geflunker (Ähnlich dem deutschen: "Erzähl mir nix!”). Im Journalismus wird aber seit Jahren gefordert, man müsse in seinem Beitrag „eine Geschichte erzählen“. Und oft wird mit den spärlichen Englischkenntnissen angegeben und dies als „story telling“ bezeichnet. Was steckt dahinter?
Wenn man Gedächtnissportler fragt, wie sie sich eine Unzahl verschiedenster Spielkarten, Gegenstände oder Zahlen merken können, dann lautet die häufigste Antwort: Indem ich mir eine Geschichte ausdenke, in der die zu merkenden Sachen in der richtigen Reihenfolge vorkommen. Es werden also die bisher isolierten Fakten zu einer Geschichte verbunden, weil man sie sich dann viel besser merken kann.
Das macht verständlich, wie die Verknüpfung von Fakten dem Mediennutzer das Einordnen und Verstehen erleichtert. Menschen hören zudem lieber einer Geschichte zu als der Aufzählung von Wasserständen, Börsenkursen oder Ferkelpreisen. Das hängt aber zudem damit zusammen, dass beim Erzählen einer Geschichte immer auch ein wenig der Erzählende mit durchschimmert, also eine menschliche Begegnung stattfindet. Beim Lernen verändern sich ja stets Beziehungen: Das Unbekannte wird eingeordnet und zum Bekannten, dadurch verändern sich im Gehirn die Beziehungen von Zellen, die das Wissen speichern. Das Gelernte verändert häufig die Sicht auf die Welt und damit die Beziehung zur Welt und da Lernen sehr häufig auf einer Begegnung mit einem anderen Menschen, etwa dem Lehrer, beruht, ändert sich auch diese Beziehung, zum Beispiel zu mehr oder weniger Vertrauen, Achtung, Zuneigung oder Glaubwürdigkeit.
Es ist also keine Frage, dass eine geschickte Auswahl und Reihenfolge von Fakten dem Mediennutzer das Leben leichter macht. Wer die Titel und Funktion eines Wissenschaftlers nennt, ehe der zu Wort kommt, erleichtert dem Nutzer einzuschätzen, wie kompetent der Forscher ist. Es geht also um die Erzählstruktur, den logischen Aufbau, den roten Faden, der dem Nutzer das Verstehen erleichtert oder, falls er fehlt, erschwert.
Fragwürdig wird es, wenn der Journalist, wie ein Gedächtnissportler, eine Geschichte erfindet, damit sich der Hörer die Fakten besser merken kann, denn  zum Wesen einer Geschichte gehört es, dass es Täter und Opfer gibt oder Gewinner und Verlierer. Es gibt Zuschreibungen von Gut und Böse, also Wertungen, die - wie das Beispiel mit den Aufständischen, Freiheitskämpfern oder Terroristen zeigte - unter Umständen noch gar nicht möglich sind. Außerdem verwischen sie die Grenze zwischen Reportage oder Bericht und Kommentar, also zwischen der Mitteilung von Fakten und deren Bewertung oder zwischen Information und Meinung. Einst eine journalistische Todsünde!
Außerdem bieten Geschichten in der Regel eine Lösung an, oft ein Happy End, einen glücklichen Schluss „...und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie immer noch glücklich und zufrieden.“ Gerade bei Machtfragen geht es aber um eine Balance, die ständig neu gewonnen  oder die bei Wahlen neu gefunden werden muss. Hier kann eine Geschichte, die ein Ende unterstellt, eine Verfälschung der Wirklichkeit sein.
Vergleicht man wissenschaftliche Texte mit journalistischen, dann fällt auf, dass die Wissenschaftler haarklein beschreiben, wie ihr Versuch aufgebaut war und unter welchen Bedingungen sie dieses Ergebnis erzielten, weil sie alle Einflüsse berücksichtigen und benennen wollen. Der Journalist dagegen muss kürzer sein, sich auf das Wesentliche beschränken. Das führt beim gegenwärtigen Trend immer kürzer zu werden, immer öfter zu fragwürdigen Ergebnissen.
Lautet die Überschrift: „Ausländer fährt Dreijährige tot.“ entsteht beim Leser der Verdacht, dass es sich um einen unverantwortlichen Raser handelt und er sieht die eigenen Vorurteile gegen Fremde bestätigt. Lautet die Überschrift: „Auf der Fahrt ins Krankenhaus Dreijährige überfahren“ (schon etwas länger!), dann vermutet man eher eine Tragödie, etwa, dass jemand eilig ins Krankenhaus musste und der Fahrer vor lauter Sorge unaufmerksam war und einen Unfall verursachte.
So kann der Drang kurz zu sein, zu fragwürdigen Schlüssen beim Leser führen. Aber auch zum Gefühl, nicht richtig informiert worden zu sein, wodurch das Vertrauen in das Medium weiter sinkt. Dabei haben die meisten Medien nicht nur die Länge der Beiträge verkürzt, sondern auch die Zahl der Themen, über die berichtet wird, verringert, wodurch die Vielfalt der Wirklichkeit wiederum schlechter abgebildet wird und der Nutzer mehr Geld für weniger Leistung zahlen muss. Der merkt das, ist verstimmt und wird misstrauischer. Da hilft auch die buntere, abwechslungsreichere Aufmachung nicht.
Der Trend zum „story telling“ ist also einmal fragwürdig, weil es nicht darum geht „Geschichten zu erzählen“ (das ist ja auch im Deutschen zweideutig), sondern darum, durch die richtige Reihenfolge und Auswahl der Fakten einen roten Faden zu erzeugen, der dem Nutzer das Verständnis erleichtert, den Fakten einen Sinn gibt.
Noch viel fragwürdiger wird es aber, wenn das „Geschichten erzählen“ gar nicht der Vermittlung von Inhalten dient, sondern nur der Auflagensteigerung, der Reichweiten-Ausdehnung. Es ist für den Bestand einer Demokratie ziemlich belanglos, ob eine Stripperin ein riesiges Sektglas besteigt, vom Leben Gebeutelte sich nach Anerkennung sehnen und sich dafür in Talkshows missbrauchen lassen, oder ob ein Schlagersternchen in die Hitparade kommt. Das alles mag unterhaltsam sein, aber wichtig für das Land ist es nicht.
Wichtig für das Land wäre etwa zu wissen, warum Bürgerinitiativen und Demonstrationen so wenig bewirken, aber Großkonzerne von den Mächtigen hofiert werden, denn das führt zu Demokratie- und Politikverdrossenheit.
Heute begründen viele Redakteure ihre fragwürdigen Entscheidungen für die Talkshow, gegen das politische Magazin, für die Seifenoper gegen ein Drama, mit der Einschaltquote oder den Nutzerwünschen. Manche berufen sich sogar auf die Wissenschaft, die fest gestellt habe, dass die Menschen immer weniger lang aufmerksam sein könnten. Dann müssten die meisten Menschen im Beruf täglich kläglich versagen, wenn sie sich nicht längere Zeit konzentrieren könnten.
Wenn sie das angeblich bei den Medien nicht mehr tun, dann kann das auch andere Gründe haben: Erstens, es lohnt sich nicht, weil die Information sie nicht betrifft, oder nicht interessiert; zweitens, weil man sie ständig unterfordert hat. Und „ständiges in der Kutsche fahren ist ein sicheres Mittel um schwache Beine zu bekommen“, wussten schon die alten Chinesen. Die Medien hätten in diesem Fall die bedauerlichen Zustände selbst erzeugt.
Wer wollte es einem Mediennutzer verübeln, wenn er, angesichts eines dürftigen Angebotes, nicht bereit ist, sich dafür anzustrengen? Jedes Kind ist bereit sich anzustrengen, etwa um Gehen zu lernen, Sprechen zu lernen, weil das Erfolgserlebnisse mit sich bringt, die im Gehirn zur Ausschüttung von Stoffen führen, die glücklich machen. Warum strengen sich dann die Mediennutzer anscheinend immer weniger an?
Ein weiterer Grund liegt in der Natur der Sache: Nachrichten - das Wort kommt von „sich danach richten“ - sind etwas Ernstes, oft Unerfreuliches, denn bevor man über Erfreuliches berichten könnte, muss man erst einmal alle notwendigen Warnungen vor Fehlentwicklungen los geworden sein. Da Menschen Fehler machen, wird man immer genügend Anlässe finden, um auf Gefahren und Missstände aufmerksam machen zu müssen. Insofern sind seriöse Medien scheinbar voll von unerfreulichen Geschichten und können nur selten eine erfreuliche Lösung für ein bestehendes Elend verkünden.
Boulevardzeitungen schreiben nun so, dass der Leser sich darüber aufregen kann, was ihm das Gefühl gibt, er selbst gehöre zu den Guten, die solche Fehler nie machen würden. Damit bindet man den Mediennutzer an sein Medium, etwa auch indem man Radarfallen publiziert, damit nur die Nutzer anderer Medien erwischt werden. Aber insgesamt erzeugt man so das Bild einer miesen Welt.
Seriöse Zeitungen erwarten von ihren Lesern so viel Lebenserfahrung, dass sie all diese scheinbar unerfreulichen Meldungen als Hinweis auf eine baldige Besserung deuten, also so ähnlich, wie eine gute Diagnose am Anfang des Heilungsprozesses stehen sollte. Das Benennen von Problemen wäre also die Diagnose und damit der erste Schritt zur Lösung des Problems. So gesehen erscheinen die Berichte nicht mehr so schrecklich, sondern eher nützlich. Die Welt erscheint hier als eine zutiefst menschliche Abfolge von Versuch, Irrtum und Korrektur.
Ein weiterer Grund ist der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit, die Gunst des Bürgers, des Mediennutzers. In einer Gesellschaft, in der es mehr Reize gibt, als der Einzelne mag, für gut hält, ja sogar auch nur verkraften kann, in der ihm von allen Seiten zugerufen wird, was er oder sie tun solle, kaufen solle, in so einer Welt findet ein ständiger Verdrängungswettbewerb statt.
So wie man es manchmal aus armen Ländern hört, wo sich viele Menschen darum streiten, den Koffer des reichen Westlers tragen zu dürfen, so werden die Bürger hierzulande von Werbung und Medien bestürmt. Und damit man auch ja dem Werben folgt, wird einem das immer einfacher gemacht. Die Kreditkrise (als Banken Vielen bedenkenlos Kredit gaben, obwohl sie eigentlich davor hätten warnen müssen, und diese Kreditnehmer dann ihre Kredite nicht mehr zurück zahlen konnten) zeigt, wohin so etwas führt. Den Konsumenten geht die Orientierung verloren. Sie wissen nicht mehr selbst, was gut für sie ist, sondern lassen sich - weil das ja so bequem ist - etwas aufschwatzen, obwohl sie manchmal selbst ahnen, dass das gar nicht das ist, was sie wirklich bräuchten, nämlich Nähe, Anerkennung, Geborgenheit, Freundschaften, Liebe, Halt.
Natürlich ist es den Banken gar nicht recht, wenn heute an ihr unverantwortliches Handeln erinnert wird und jenen Werbeleuten, die kräftig dabei halfen, auch nicht. Da wird dann gleich mit dem Rechtsanwalt gedroht, wie jüngst von einem „Finanzdienstleister“, der seinen Wohlstand sehr wahrscheinlich dem Elend Vieler verdankt.
Die Medien werden hier auch Opfer eines pervertierten Wirtschaftssystems, das dem Kaufenden Glück verspricht, anstatt redlichen Nutzen durch Produkte von guter Qualität und das obendrein durch seine ständig wechselnden Angebote den Konsumenten irritiert.
Zugleich verspricht die Werbung den Kunden seit Jahren „Alles sei ganz einfach“, auch, wenn Bankprodukte und Versicherungen nun mal komplizierte Rechtsgeschäfte sind. Diese falsche Behauptung „Alles ist einfach“, aber auch der angebliche Zwang, immer kürzere Informationen zu produzieren, führt dazu, dass komplizierte Zusammenhänge angeblich nicht mehr darstellbar sind.
Das führt beim Bürger zu dem Eindruck, die Welt werde immer komplizierter, weil ihm vieles nicht mehr einleuchtet, sei es, weil sich die Wirtschaft durch immer umfangreicheres Kleingedrucktes aus der Verantwortung zu stehlen versucht, sei es, weil, die Erklärungsversuche der Medien auf Grund ihrer Kürze nicht wirklich einleuchten.  
Diese Unsicherheit spüren auch die Medien. Also werden ständig Fachleute oder eleganter „Experten“ zu irgendeinem Thema befragt. Das soll dem Nutzer sagen: „Schau her, hier bist Du gut aufgehoben, Hier bekommst Du endlich mal gesagt, was wirklich Sache ist.“
Die Medien benutzen die Fachleute aber auch, weil sie selbst immer weniger Kompetenz aufbieten können. Die Alten, die sich noch an frühere Ereignisse erinnern könnten, wurden in den Ruhestand geschickt, die Jüngeren haben meist nicht mehr die nötige Zeit, um sich wirklich mit einer Materie vertraut zu machen, sie verkommen zu menschlichen intellektuellen „Durchlauferhitzern“. Jeden Tag treibt man eine neue Sau durchs Dorf, meldet den x-ten Durchbruch bei der Krebsbekämpfung, den größten Event oder das teuerste Irgendwas. Dass so in einem Medium heute „Hü“ und morgen „Hott“ als richtig gilt, merkt der Nutzer oft eher als die Redaktion. Ergebnis: Wieder: Unzufriedenheit und Vertrauensverlust.
In so einer Welt lässt sich ein beachtlicher Teil der Menschen verständlicher Weise gerne davon ablenken, dass seine tatsächliche Lage sich ständig verschlechtert, anstatt als Einzelner im Kampf gegen den Zeitgeist oder die geballte Macht von Konzernen immer wieder Niederlagen einzustecken, sich als Mensch entwertet und nicht ernst genommen zu fühlen. Es ist das alte römische Motto zum Ruhigstellen der Massen: „Brot und Spiele“.
Und seit dem Augenblick, an dem sich die Medien in erster Linie als Wirtschaftsunternehmen sahen oder von Politikern in diese Rolle gedrängt wurden, konnten sie ihre eigentliche, in einer Demokratie konstitutionelle Aufgabe nicht mehr oder nur noch bedingt ausüben. Da wurde aus Information Infotainment, da werden Fakten und Meinungen vermengt, da werden Journalisten zu Stars oder zu Steigbügelhaltern der Macht, da kürzt man solange bis Häppchen-Journalismus übrig bleibt und die Kontrollaufgabe der Medien bestenfalls noch in Sonntagsreden vorkommt. Und ratlose Redaktionen lassen sich von Coachs beraten, wie man denn die Quote wieder heben könne, anstatt sich selbst zu fragen, was man falsch macht und wie man das Vertrauen der Nutzer wieder gewinnen könnte.
Man muss leider feststellen, dass die betrübliche Lage der Demokratie und der Medien von diesen selbst zu einem erheblichen Teil mit verursacht wurde, auch, wenn die Politik mit ihren Vorgaben ebenfalls entscheidende Fehler beging. Nicht umsonst verspottet der Kabarettist Matthias Richling die Einschaltquote als „ Einfaltsquote“. Fragt sich nur, ob er das auf Politiker, Medienmacher oder Publikum bezog.
 
(Das Bild oben zeigt die Wandzeitung des Protestes am Bauzaun des Stuttgarter Hauptbahnhofes gegen S21 (der Verlegung des Bahnhofes in den Untergrund), deren erste Ausgabe bereits für das Museum gesichert wurde.)
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Sonntag, 27. Februar 2011