Sind Computer ungesund?
Ob zunehmende Depressionen auch auf Computer zurück zu führen sind?
 
    Nicht nur wegen raschen Veraltens und Versagens sind Computer ein Ärgernis, sondern auch, weil Betriebssystem und Programme nicht so funktionieren, wie es dem Menschen angemessen wäre.
   Der Mensch lernt als Kleinkind zu stehen, dann zu gehen, zu rennen, zu springen schließlich zu tanzen und zu balancieren. Ein Lernschritt folgt auf den anderen und baut auf dem Erlernten auf. so erweitern sich Fähigkeiten und das Erobern der Welt erfolgt Schritt für Schritt.
   Beim Rechner dagegen erweitern zwar neue Betriebssysteme und Programmversionen den Funktionsumfang, aber nicht nur das Einstellen auf neue, veränderte Programme, sondern auch deren beinahe unerschöpfliche Vielfalt, entwerten das bereits erworbene Wissen und Können immer wieder. Selbst Profis benutzen vom Bildbearbeitungsprogramm "Photoshop" oft nur einen kleinen Teil - ein Berufsfotograf schätzte 15 %. Das bedeutet: Obwohl das Programm seine Bedürfnisse erfüllt, vermittelt es ihm das Gefühl, er beherrsche es nicht und könnte jederzeit durch ein falsches Kommando eine, zum Glück widerrufbare Katastrophe auslösen. Entspanntes Arbeiten sieht anders aus.
   Ich hatte meine Buchhaltung mit Apples Claris Works optimiert: Es genügte jede Einnahme oder Ausgabe einmal einzugeben. Durch eine Funktion, die sich "Verleger" und "Abonnent" nannte, konnte ich den Inhalt jeder Zelle einer Tabellenkalkulation automatisch in andere Tabellen übertragen lassen. Etwa aus der Monatsabrechnung in die Jahresendabrechung und von dort in die Steuererklärung kopieren, oder in das monatliche Kalenderblatt, wo die Daten in eine Grafik umgewandelt stets anzeigten, ob Einnahmen oder Ausgaben überwogen.
   Als diese Funktion bei einem Update verschwand, musst ich meine gesamte Buchhaltung umstellen, was mir erhebliche unnötige Arbeit verschaffte.
   Einige Jahre später wurde das Programm ganz eingestellt und durch zwei Progrämmchen ersetzt, die bei Weitem nicht den Funktionsumfang bieten. Ergebnis: 22 000 Dokumente sind entweder nur auf alten Rechnern mit dem alten Programm zugänglich, oder über eines der neuen Programme, die aber keine Datenbank enthalten und obendrein manche Schriften nicht mehr kennen, so dass das Layout zerstört wird.
   Soll ich 22 000 Dokumente via pdf verfügbar machen, obwohl ich nicht weiß, welche davon ich noch einmal brauche? Oder soll ich einen erheblichen Teil meiner jahrzehntelangen Rechnernutzung einfach wegwerfen, was zum Teil auch einen Verlust des Archivs und der Quellen bedeuten würde?
   Damit fände wieder etwas statt, was dem Menschen nicht entspricht: Statt auf Vorhandenem aufzubauen, wird man von bereits Gelerntem, von Erarbeitetem abgeschnitten und steht vor der Wahl entweder erheblichen Aufwand für das Wieder-verfügbar-machen zu treiben, oder bereits geleistete Arbeit in großem Umfang zu verlieren. Ergebnis in jedem Fall Verlust (an Arbeitszeit oder Erarbeitetem), statt Gewinn!
   Natürlich muss man sich im Laufe des Lebens von Altem, Überholtem, von Kaputtem und Ballast befreien. Ein Autor bleibt ein Autor, auch wenn alle seine Werke verloren gehen. Aber wem nützt er dann noch? Wen erfreut, belehrt, tröstet, irritiert er noch, wenn seine Werke nicht mehr lesbar sind?
   Ja, man kann ohne Museen und ohne Geschichte leben, aber warum spielen dann Geschichte, Überlieferung, Mythen und Gegenstände in den meisten Kulturen so eine große Rolle?
   Ein Autor, dessen Archiv nur noch mühsam zu erreichen ist und der nicht weiß, wie lange noch, der tut sich schwer Zusammenhänge zu überprüfen, die er zwar schon mal bearbeitete, die ihm aber nicht mehr genau in Erinnerung sind. Hier fördert der Rechner die Produktivität nicht mehr,  sondern lähmt sie.
   Es verdrießt Rechnernutzer, wenn ihre mühsam erworbenen Kenntnisse von Betriebssystemen und Programmen mit jeder neuen Version entwertet werden, weil gewohnte Abläufe verändert wurden, oder den neuen nützlichen Funktionen fehle, Verluste gegenüber stehen, die u.U. eine völligen Änderung der gewohnten Arbeitsabläufe erfordern.
   Wer benutzt heute noch den Browser Netscape? Welche Seiten ließen sich damit noch öffnen? Das Internet dient den Herstellern auch als Treibriemen um die Endverbraucher zu Updates zu zwingen, indem er bei der Nutzung älterer Programme einen Hinweis bekommt, das dies oder jenes leider nicht angezeigt werden könne; er möge doch bitte eine neuere Version benutzen. So wird dem Benutzer älterer Rechner und Programme immer öfter vermittelt, seine Ausrüstung tauge nichts mehr, obwohl sie noch einwandfrei funktioniert. Firmen legen es eben nicht mehr darauf an ihren Kunden den größten und lang anhaltendsten Nutzen zu bieten, sondern darauf, den Kunden in eine Abhängigkeit zu bringen, die ihn zwingt bald wieder etwas bei ihnen zu kaufen. Die Ähnlichkeit zu Drogenhändlern ist verblüffend. Die Anschaffung eines Rechners bedeutet Beginn einer Abhängigkeit!
   Damit will ich nicht sagen, dass neue Programmversionen gar keine Verbesserungen brächten, aber oft sind sie zwiespältig, wie etwa bei der Rechtschreibkorrektur. Erstens erkennt sie nicht alle Fehler (ob man "Gründe", oder "Grüne" schreibt, ist ihr egal, verändert aber den Sinn erheblich) und zweitens: Wie sollen Kinder Rechtschreibung lernen, wenn die meisten Programme automatische Korrektur anbieten? Dass sie drittens oft sinnentstellend korrigiert, sobald man ungewöhnliche Worte oder Satzkonstruktionen benutzt, stört dagegen fast nur Autoren.
   Ein weiteres Problem entsteht durch die vielfältige Nutzbarkeit des Rechners. Zum anfänglichen Programm, das Schreiben, Rechnen, Zeichnen und Datenbanken beherrschte, kamen im Laufe der Jahre Fax, BTX, Mailprogramm und Browser. Da viele Menschen nie etwas von Typographie und Layout gehört hatten, sahen und sehen viele Texte schrecklich aus. Dann folgte Software um die Festplatte aufzuräumen, um Musik und Filme abzuspielen und Fotos zu bearbeiten. Mit dem Scanner kam die Schrifterkennung (OCR) und mit dem wachsenden Speicher wurde ein Suchprogramm nötig. Weitere Programme, die man einstellen und um die man sich gelegentlich auch kümmern muss sind Bildschirmschoner, der der Dauerbetrieb der Rechner erforderte, oder Komprimierungssoftware, um Speicherplatz zu sparen. Druckertreiber müssen zum Drucker passen.
   Sicherheitsprogramme, wie Verschlüsselung, Firewall oder Virenschutzprgramme wurden durch das Internet erst nötig. Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass er ein Präsentationsprogramm beherrschen müsse, oder eine zum Bau von Internetseiten und zum Betrieb vom Homepage und Blogs? Die Dynamik der Rechnerentwicklung vermittelte dem Benutzer immer wieder das Gefühl, er sei ein Anfänger, beherrsche seinen Rechner nicht. Der oft zu hörende Ausruf: "Was macht er denn jetzt schon wieder?" ist eine Verlautbarung dieser Ohnmacht der Maschine gegenüber. Kein gutes Gefühl!
   Selbstverständlich sehe ich das Dilemma der Firmen, die ihren Kunden stets das Neueste anbieten wollen und noch mehr Möglichkeiten, aber auf der Ebene der Gefühle führt das beim Nutzer zu einer Überforderung, zu Ärger und dem Gefühl ständiger Hetze, weil man sich eigentlich mit dem Update des Programmes xyz noch genauer beschäftigen sollte, nur um den Stand des Wissens zu halten und nicht abgehängt zu werden. Wie viele Computerzeitschriften hat man gelesen, nur um ein wenig den Überblick zu behalten? Und das Meiste davon gilt heute längst nicht mehr!
   Das bedeutet: Die IT-Branche treibt ihre Kunden vor sich her, statt ihnen zu dienen. Erst als man ganz viele Schulen mit Computern und Internetanschluss (Schulen ans Netz) ausgestattet hatte, fiel auf, dass es an geeigneten Lehrplänen und Inhalten fehlte. Von kundigen Systemadministratoren ganz zu schweigen. Das erinnert fatal an die Sprachlabors, mit denen man in den siebziger Jahren das Sprachenlernen "revolutionieren" wollte und die längst verstaubt und funktionsuntüchtig abgebaut wurden. Das Geld in Lehrer zu stecken, wäre vermutlich vernünftiger gewesen.
   Könnte es sein, dass die IT-Branche durch die nicht menschengemäße Gestaltung der Rechner dazu beiträgt, dass immer mehr Menschen an Erschöpfung und Depressionen leiden, weil die Rechner und Programme sich nicht an den Bedürfnissen der Nutzer und an typischem menschlichen Lernverhalten orientieren?
    Die Benutzung  des Rechners kann bei Einigen ein Gefühl, wie das des Sysiphus erzeugen, nämlich der "Vergeblichkeit allen Bemühens". Sie erleben keinen Erfolg mehr. Früher sah die Sekretärin am Abend, die vielen Briefe, die sie geschrieben hatte, wenn sie sie zum Briefkasten brachte. Heute schaltet man den Rechner aus und er sieht genauso aus, wie am Morgen. Dass man unzählige Mails beantwortete, lange Texte verfasste oder sonst irgend ein Werk erschuf, ist nicht mehr sinnlich wahrnehmbar. Früher füllten die Werke eines Autors Ordner und Regale. Heute sind sie auf einer Festplatte und niemand weiß, wann der Zugang zu ihnen durch einen Programmwechsel verloren geht. Das Problem der Archivierung digitaler Daten ist bisher ungelöst. Auch, wenn es nicht jedem bewusst ist, Kultur, die sich auf Rechner stützt, bewegt sich auf dünnem Eis. Vermutlich ahnen oder spüren das viele und haben deshalb ein zwiespältiges Verhältnis zum Rechner. Vielleicht auch einfach, weil sie noch vor wenigen Jahren viel Geld dafür investierten, aber heute eigentlich schon wieder einen neuen kaufen müssten (weil sie enteignet wurden), das Geld aber lieber für einen Urlaub ausgeben würden. Wenn man aber mit einem weit verbreiten Werkzeug und seiner Funktionsweise dauerhaft nicht glücklich wird, dann kann das nicht gesund sein.
Die Wissenschaftszeitschrift Science berichtet im Juli 2012, dass man bei Pokerspielern einen Bluff gegenüber einem Menschen im Hirnscan (MRT) erkennen kann, während gegenüber einem Computer als Gegenspieler nicht. Das Gehirn geht also mit einem Computer anders um, als mit einem Menschen. Auch das könnte gesundheitliche Auswirkungen haben.
 
 
Das Bild zeigt einen Rechner, der dem Benutzer mit kryptischem Text mitteilt, dass er ein Problem hat. Allerdings weiß der normale Nutzer dann noch lange nicht, welches Problem und wie er es beheben könnte.
Carl-Josef Kutzbach
Montag, 14. Mai 2012