Feige Architektur
 
Seit einigen Jahren ist die Architektur feige geworden. Sie baut Häuser, die so tun, als seien sie nicht da, indem sie spiegelnde Glasflächen einsetzt.
Der Hintergrund ist, dass man so große Baumassen, die eigentlich nicht ins Stadtbild passen, doch genehmigt bekommt. Dazu werden bereits die Modelle in Plexiglas gefertigt, um durch Helligkeit und Transparenz die Baumasse zu verschleiern.
Schöner, als in der Überschrift "Hochhaus für ein Hotel oder Wohnungen" (Stuttgarter Zeitung 15.10.2008) kann man die architektonische Beliebigkeit gar nicht mehr darstellen. Man baut eine Hülle und füllt sie irgendwie. Dass bei jedem lebenden Organismus die Form der Funktion folgt, etwa ein Baum an einem Hang entsprechende Wurzeln bildet, um nicht um zu fallen, das haben diese Gebäudebastler und der Stuttgarter Gemeinderat noch nie begriffen.
Das zeigt sich auch beim Quartier S. Dem Eigentümer und Vermarkter geht es um Rendite, nicht um Stadtqualität, also muss es wieder ein grober Klotz werden, wie die Königsbaupassagen, wie Breuningers Erweiterung, wie die neuen Ministerien und die Kästen der Trutzburg neben dem Bahnhof.
Was Gemeinderat, aber auch Land nicht begreifen können oder wollen ist, dass sich Menschen in optisch abwechslungsreicheren Strukturen, etwa alten Stadtkernen, wohler fühlen, als in Gebäuden, die ganze Straßenzüge beherrschen, aber durch spiegelnde Glasfassaden so tun, als wären sie gar nicht da. Dass man solche reizvollen vielgestaltigen Quartiere auch heute schaffen könnte hat Prof. Humpert vor vielen Jahren an der Universität Stuttgart vorgeführt. Nur umgesetzt wird das nicht, weil die Rendite geringer wäre.
Es wird Zeit, dass man dem Unsinn den Banker und Investoren verzapfen nicht länger traut. Die finanzielle Rendite für sie sinkt, aber die Lebensqualität der Stadt würde steigen und damit über Jahrzehnte eine allerdings kaum messbare Rendite bringen, denn eine Stadt in der man sich wohl fühlt zieht Menschen an. Grobe Klötze, die den Menschen imponieren wollen, werden in der Regel nicht geliebt und oft schon nach Jahren abgerissen (z.B. Siemens in der Friedrichsstraße).
Wir brauchen Städte in denen sich die Menschen als Fußgänger wohl fühlen, gerne flanieren und einkaufen, keine Sammlung von unpersönlichen Investorenklötzen, denen man nicht einmal ansieht wofür sie gebaut wurden.
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 24. Oktober 2008