Verwirrende Vielfalt?
Ursachen und Gegenmaßnahmen
 
Aktueller Anlass
Das Land Baden-Württemberg ist seit seiner Gründung nicht größer geworden. Die Zahl seiner Bürger wächst nicht mehr, sondern sinkt. Trotzdem wurden die Politiker des Landtags von Baden-Württemberg zu Berufsparlamentariern, was den Bürger jährlich 10 Millionen zusätzlich kostet, also mehr als einen Euro je Kopf vom Baby bis zum Greis. Und nun wünschen die Parlamentarier größere Räume, was ebenfalls mehrere Euro je Bürger kosten würde, je nachdem, ob man neu baut, umzieht, oder zusätzliche Räume schafft. Aber wieso eigentlich? Schließlich sind die Kompetenzen des Landtags im Lauf der Zeit geringer geworden, weil einerseits Aufgaben an die Europäische Gemeinschaft abgegeben werden mussten, oder aber im Zuge von Teufels Verwaltungsreform auf die Kreise und Gemeinden verlagert wurde.
Das Argument, das nicht nur die Stuttgarter Parlamentarier anführen würden, wäre, dass die Welt komplizierter geworden sei und man dem Rechnung tragen müsse. Da der Bürger häufig auch das Gefühl hat, dass die Welt komplizierter geworden sei, könnten die Parlamentarier auf Verständnis hoffen.
Aber was hat sich denn geändert? Hunger, Durst, das Bedürfnis nach menschlicher Nähe, Anerkennung und Liebe? Sicherlich nicht. Der Wunsch der Menschen mit einer sinnvollen Arbeit ein wenig mehr als nur das tägliche Brot zu verdienen? Auch nicht. Ja, was denn dann?  
Rückblick
Schaut man zurück in die Gründungsjahre des Landes, dann sind da schon Unterschiede fest zu stellen: Statt schwarzen Telefonen mit Wählscheibe, gibt es heute Tastentelefone, Schnurlose Telefone, oder Mobiltelefone, ja tragbare Rechner mit denen man auch den Standort bestimmen, Radio hören, im Internet surfen und noch viel mehr kann. Neben der Post und dem altmodischen Brief und der Postkarte gibt es E-mail, SMS-Textnachrichten, multimediale Nachrichten, dafür fast keine keine Telegramme oder Fernschreiben mehr. Jedes Elektrogeschäft zeigt einem die enorme Vielfalt der Geräte und Dienstleistungen in mehreren Regalen. Aber worum geht es denn eigentlich?
Zwar hat Technik neue Nutzungsmöglichkeiten geschaffen, aber im Grund geht es nach wie vor darum, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das Beziehungen zu anderen Menschen pflegen will, indem es ihnen schreibt, sie anruft, ein Bild, eine Bilderfolge (Film) sendet um etwas zu zeigen, was man mit Worten schwerer beschreiben kann. Man will Andere am eigenen Erlebnis teilhaben lassen - und sei es nur, um sie neidisch zu machen - oder will wissen was Andere tun, ob man sich treffen könnte.
Die technischen Möglichkeiten sind größer geworden und schneller. Aber der Aufwand dafür ist auch größer geworden. Ein Telefon war in den frühen 50er Jahren nach dem zweiten Weltkrieg ein Luxus. Ein Radio zum Teil auch noch. Dafür kam der Briefträger zweimal am Tag und kannte fast jeden in der Straße. Man konnte zu Fuß zum nächsten Laden gehen, traf dort Nachbarn aus dem Viertel und erfuhr so Vieles, was heute unbemerkt bleibt. Also das Bedürfnis nach Klatsch und Tratsch wurde samt dem nach menschlicher Begegnung im Alltag befriedigt und nicht auf dem Umweg über Medien und Geräte.
Fordernde Vielfalt
Heute dagegen bevorzugt der Eine das Telefon, der Andere die E-mail der Dritte SMS-Textnachrichten, der Vierte Internet-Telefonie, der Fünfte die Begegnung in einem sozialen Netzwerk im Internet und der Sechste vielleicht noch handgeschriebene Briefe. Der Siebte faxt vielleicht am Liebsten. Sieben statt zwei Kommunikationswegen (Post und Telefon), das bedeutet auch, dass man mehr Möglichkeiten hat einander zu verpassen, selbst, wenn man mal annimmt, dass die meisten Telefone heute über einen Anrufbeantworter verfügen. Hier zeigt sich schon, dass die vielfältigeren Möglichkeiten, die die Technik bietet, auch ihre Nachteile haben.
Genügten früher Stift und Papier, um eine Nachricht abzufassen und mit Hilfe einer Briefmarke auf den Weg zu bringen, so sind heute fast immer elektrische Geräte nötig, die wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Pflege benötigen, als der eventuell anzuspitzende Bleistift, oder der nachzufüllende Federhalter.
Vor allem aber muss man heute wesentlich mehr Techniken beherrschen, um über die neueren Medien zu kommunizieren. Das Betriebssystem des Gerätes, die speziellen Programme für Internet, Mail, Internet-Telefonie, Online-Dienste und die Spielregeln der jeweiligen Portale im Internet. Man muss Geräte erwerben, sie mit Strom versorgen, ihre Programme alle Nas' lang anpassen und dann wieder etwas hinzu lernen, soll mehrere Passwörter sicher aufbewahren und merken und unter vielen Anbietern jenen wählen, der am Besten zu einem und seinen Bedürfnissen passt und natürlich dafür bezahlen. Der Aufwand für Kommunikation ist also eher höher, in jedem Fall umständlicher, weil vielseitiger geworden. Dafür sind aber eben auch Dinge möglich, die früher unmöglich waren.
Verwirrende Vielfalt
Was hat der Wandel in der Kommunikation mit dem Stuttgarter Parlament zu tun? Nun in beiden Fällen erscheint die Welt komplizierter geworden zu sein, obwohl sich weder die Grundbedürfnisse der Menschen noch ihre Zahl (wesentlich) und die Landesgröße verändert haben. Die verwirrende Vielfalt ist also ein Produkt menschlicher Tätigkeit. Und das hat seinen Preis: Unübersichtlichkeit, Unsicherheit, Verwirrung, Missbrauch und höhere Kosten.
Selbstverständlich versucht der Gesetzgeber für Alles und Jedes die entsprechenden Gesetze und Vorschriften zu machen, bis er sich selbst darin nicht mehr auskennt. In Italien soll dieser Zustand bereits erreicht sein, dass man nicht einmal mehr weiß, wie viele Gesetze es gibt, geschweige denn, was sie bedeuten. Es kann sich also auch der Gutwilligste schon längst nicht mehr daran halten. Auch bei uns wird bei jedem Unglück, bei jedem Skandal fast sofort von irgend einem Politiker vorgeschlagen ein neues Gesetz zu schaffen, oder die bestehenden zu verschärfen. Der Denkfehler liegt darin, dass mit zunehmender Zahl der Gesetze (und Vorschriften, Verordnungen, Normen, etc.) die Übersichtlichkeit verloren geht. Es gibt den wunderschönen jiddischen Satz:
 
  1. „Jahwe wusste warum er zehn Gebote gab;
  2. kann man an die Finger abzählen und nischt vergessen.“
  3.  
Das führt allerdings zu einer ganz anderen Rechtskultur. Man muss bei jedem Tun überlegen, welches der zehn Gebote in diesem Fall anzuwenden sei. Das hat den Vorteil des ständigen gedanklichen Umgehens mit den Geboten. Sie sind ständig im Bewusstsein.
Dabei muss man redlicher Weise zugeben, dass im Alten Testament nach den Zehn Geboten, wenn man weiter liest, die Ausführungsbestimmungen folgen, die aber damals schon den Täter-Opfer-Ausgleich kannten (vor über 2000 Jahren!). Also eine Verringerung der Gesetzestexte auf ein Blatt ist wirklichkeitsfremd. Aber grundsätzlich ließe sich Vieles vereinfachen, wenn man den Blickwinkel änderte.
Vereinfachen durch Besinnung
Um das sinnvoll und wirkungsvoll zu tun, müsste man sich zunächst mal fragen, welche Themen auf welcher Ebene am Besten gelöst werden können. Es wäre wohl dem Schutz des Wattenmeeres nicht gedient, wenn die Baden-Württemberger (die davon wenig Ahnung haben) darüber befinden müssten. Genauso wenig darf man es aber in das Belieben eines jeden Orts am Ufer stellen, denn dann könnten wirtschaftliche Interessen des einen Ortes zu weiträumigen Schäden führen, die andere Orte ebenfalls beträfen. Im Falle des Wattenmeeres läge es nahe alle Anlieger, aber auch jene an Entscheidungen zu beteiligen, die im Hinterland darauf Einfluss nehmen, wenn sie etwa ihre Felder zu sehr düngen, oder gefährliche Abfälle ins Wasser kippen. Es gibt also Themen, bei denen geographische Räume eine Rolle spielen, nicht aber Landesgrenzen.
Ähnlich lassen sich sicherlich Themen finden, die bestimmte Bevölkerungsgruppen betreffen, wie etwa Bildung, oder Alter. Auch hier könnte man sicherlich einen beachtlichen Teil den Betroffenen, oder ihren Vertretern (Eltern, Kinder, Vormund) überlassen, müsste aber, wie beim Schutz des Wattenmeeres, auch dafür sorgen, dass das Allgemeinwohl durch eine weitere Instanz gewahrt bleibt. Dafür scheinen föderale Strukturen gut geeignet. Der Bund, oder Europa schauen aufs große Ganze, die Länder kümmern sich um regional angepasste Lösungen und die Gemeinden gestalten das in diesem Rahmen dann aus.
Optimale Strukturen, logische Abläufe
Natürlich klingt das so sehr viel einfacher, als es in der Praxis ist. Aber wenn die Parlamente nicht völlig in verwirrenden Kleinigkeiten ersticken sollen, dann muss man prüfen, was wo am Besten geregelt werden könnte. Das demokratische Ideal, dass der Bürger sich zu Allem äußern können sollte, wird ja gerade durch die Komplexität vieler Vorgänge unmöglich. Umgekehrt ist das Kreuzchen-Machen alle vier oder mehr Jahre auch keine befriedigende Lösung. Andererseits kann der Bürger sich beim besten Willen nicht mit allen Details befassen (egal ob Steuerpolitik, Stuttgart 21, Mindestlohn, Renten, Arbeitslosigkeit, oder Bildung). Was tun?
Zunächst einmal könnte man einige Messlatten erstellen, die an Vorhaben in jedem Fall anzulegen wären. Wichtige Wünsche der Bürger wären da sicherlich: Gerechtigkeit, also redliche Verteilung von Lasten und Nutzen. Wirtschaftlichkeit, also Nutzen und Qualität müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zum Aufwand und den Kosten liegen und man darf keine Fakten schaffen, die es zukünftigen Generationen nicht erlauben die Entscheidung zu ändern. Nachweis der Notwendigkeit und des richtigen Zeitpunktes. Dann gäbe es zum Beispiel keine Bahnbrücken, die zwar fertig gestellt sind, über die aber in den nächsten zehn Jahren nie ein Zug fahren wird.
Reihenfolge entsprechend nachgewiesener Nützlichkeit. Keine Ausgaben auf Pump, denn die werden durch die Zinsen teurer. Vielleicht wäre eine Ausnahme sinnvoll, nämlich, dass dann auf Pump etwas eingerichtet, gebaut, gekauft werden kann, wenn der Nutzen so viel höher ist, dass damit die Zinszahlungen mehr als ausgeglichen werden. Beispiel: Eine Schwimmbadabdeckung, die das Auskühlen des Wassers in der Nacht verhindert und so Energie einspart, könnte dadurch so viel einsparen, dass das einen Kauf auf Pump gestattet, weil die damit erzielte Energieeinsparung mehr Geld einbringt, als die Zinsen und der Kauf kosten.
Natürlich gelten solche Maßstäbe zum Teil auch heute schon. Aber sie scheinen mir nicht im Bewusstsein der Politiker und der Bevölkerung ständig präsent zu sein.
Ganz wichtig wäre ebenfalls bei Vorhaben die Gesamtkosten während der Planung, Erstellung und Nutzung, sowie ihrer Beseitigung vorab zu berechnen, während heute häufig nur die Anschaffungskosten, nicht aber die laufenden Kosten berechnet und benannt werden. Z.B. kostet ein Tunnel mehr, als eine oberirdische Verkehrsführung, sowohl beim Bau, als auch beim Betrieb und bei der Instandhaltung, sowie der späteren Beseitigung. Deshalb werden etwa in München in den nächsten Jahren fast nur noch Straßenbahnlinien entstehen, während Tunnelstrecken aus Kostengründen auf lange Zeit nicht finanzierbar sein werden. In ferner Zukunft würde es nicht wundern, wenn man U-Bahnen wieder zu Straßenbahnen macht, weil bei zurückgehendem Individualverkehr der nötige Platz in den Innenstädten wieder verfügbar wäre, aber auch, um Geld zu sparen.
Anschaulichkeit, statt Werbelyrik
Sicherlich auch gut beim Bürger käme an, wenn die berechneten Kosten anschaulich dargestellt würden: Etwa in dem man sie Pro Kopf und Jahr darstellt, oder pro Mensch mit einer bezahlten Arbeit. Und das am Besten auch wieder bezogen auf die Menschen, die davon betroffen sind. So würden etwa die 4,5 Milliarden für Stuttgart 21 nach den Anteilen aufgeschlüsselt, die Stadt, Land und Bund, sowie Bahn dafür aufwenden müssen. Und da käme dann heraus, dass die über eine Milliarde, die Stuttgart aufbringen muss jeden Bürger über 1600 Euro kosten wird, plus dem Anteil, den er über das Land und den Bund mit seinen Steuern ebenfalls bezahlen muss. Da das keine so riesigen Summen wie Milliarden sind, sind sie anschaulicher für den Normalbürger.
Arbeitsteilung hilft Einordnen
Grundsätzlich sollte die Arbeitsteilung etwa so ablaufen: Der Bürger äußert Wünsche, Vorschläge, oder Nöte. Gemeinderat, Landtag oder Bundestag klären, wie Abhilfe geschaffen werden könnte, welche Nebenwirkungen das hätte und, was es kostet. In einem nächsten Schritt könnten die Bürger dann äußern, ob ihnen die Lösung zusagt, wie wichtig ihnen bestimmte Projekte sind und wie viel die kosten dürften. Je nach dem wird man dann sagen müssen, das geht nicht, das wird aber nur eine sparsame Variante, oder hier wollen wir wirklich nur das Beste.
Die Demokratie wird dadurch gewiss nicht bequemer und man wird auch Vorkehrungen treffen müssen, dass nicht Gruppeninteressen gegen das Allgemeinwohl ausgespielt werden können. Aber, wenn es gelänge die Themen stets in den Bereichen anzusprechen, in denen die Betroffenen und Beteiligten mitreden wollen, dann könnte das funktionieren.
 
Beispiel Atommüll
Was würde beim schwierigen Thema „Endlager für Atommüll“ geschehen? Vielleicht Folgendes:
(Die Nutzung von Atomkraft ohne gesicherten Nachweis der Endlagerung ist eigentlich unzulässig und wäre unter dem Gesichtspunkt Nachhaltigkeit überhaupt nicht genehmigungsfähig gewesen, weil niemand die tatsächlichen Kosten vorhersagen kann. Aber nun haben wir das Problem.)
Konsens: Wir erzeugen den Abfall, also müssen wir ihn auch sicher lagern, oder einen Weg finden ihn unschädlich zu machen.
Solange wir keinen Weg haben ihn unschädlich zu machen, müssen wir ihn lagern.
Ein Lager muss in jedem Fall für sehr lange Zeiträume sicher sein. Das heißt man muss es von der Umwelt und von Menschen sicher trennen können.
Welche Möglichkeiten gibt es? Vermutlich nur wenige (geologische) Gebiete des Landes.
Wie muss so ein Lager gestaltet werden? (Technik) Ideal wäre, wenn man es einerseits sich selbst überlassen kann, wenn es mal voll ist. Andererseits sollte es eine Möglichkeit geben an die gelagerten Dinge wieder heran zu kommen, wenn das nötig ist, oder wenn man mal gelernt hat, wie der Müll unschädlich gemacht oder genutzt werden könnte.
Wenn Geologie und Technik gefunden sind, wie kann dann für die dortigen Menschen ein gerechter Ausgleich gefunden werden, dass sie die Gefahr der Transporte und die Belastungen durch Bau und Betrieb des Endlagers auf sich nehmen können?
Wie kann der Betrieb so gestaltet werden, dass Gefahren und Kosten gering bleiben?
Wie wird das Lagern nach dem Füllen geschützt, versiegelt, gekennzeichnet etc. damit nicht zukünftige Generationen unabsichtlich dadurch gefährdet werden?
So ungefähr könnte ein Verfahren aussehen, bei dem alle berechtigten Interessen berücksichtig werden. Das Ganze hätte natürlich bedacht und berechnet gehört, ehe man die Kernenergie zu nutzen begann, denn unter Umständen hätten man dann gemerkt, das Kosten und Nutzen in keinem guten Verhältnis stehen. Die Energieversorger waren ja erst dann bereit sie zu nutzen, nachdem sie der Staat von den Folgekosten weitgehend befreit hatte.
Bürger sind zu Engagement fähig und bereit
Das Beispiel Stuttgart 21 zeigt allerdings auch, dass es manchmal für den Bürger notwendig sein kann sich mit technischen Details herum zu schlagen, die auch dem gewöhnlichen Abgeordneten in der Regel verborgen und fremd bleiben dürften. Das wird immer dann nötig, wenn jemand - in diesem Fall die Bahn - versucht Vorschriften zu seinen Gunsten auszulegen, oder zu umgehen (Ausnahmegenehmigungen), ohne zu erklären, warum hier ein Abweichen von Standards sinnvoll ist. Das gehörte allerdings wiederum geklärt (von den Genehmigungsbehörden und den Parlamentariern), ehe die Erlaubnis zum Baubeginn gegeben wird. Geschieht das nicht, muss man - wie in Stuttgart geschehen - damit rechnen, dass die Bürger misstrauisch werden.
Vieles ließe sich durchaus so darstellen, dass sich die Verwirrung in Grenzen halten lässt, wenn - und das ist eine unabdingbare Vorgabe - man sich die nötigte Zeit nimmt und gründlich genug nachdenkt. Das dürfte in Friedenszeiten kein unüberwindbares Problem sein, aber bei Katastrophen oder Kriegen, muss man manchmal sehr schnell Entscheidungen fällen. Hier wäre es gut, wenn man bei Zeiten solche Situationen durchgespielt und geübt hat (z.B. Katastrophenschutz). Wie weit sich das machen lässt, da man ja beim besten Willen nicht alle Möglichkeiten vorhersehen kann, ist schwer zu sagen. Irgend wann würde auch der Aufwand zu groß. Aber vielleicht wäre schon viel gewonnen, wenn man einige wenige Gebote (etwa oben erwähnte) ständig anwenden würde und damit sozusagen in diesem Denken geübt wäre.
Wirkungen erfragen
Grundsätzlich sollte man immer fragen:
(Als Gedankenbeispiele lägen heute nahe: Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe in Japan, Stuttgart 21, Atomenergie-Ausstieg, Aufstand in Libyen, Flüchtlinge in Lampedusa...)
  1. 1.Wie viele Menschen sind davon betroffen? Direkt, indirekt?
  2. 2.Wie viele Menschen müssten für die jeweilige Entscheidung etwas tun? (Steuern zahlen, arbeiten, umziehen...)
  3. 3.Welche Kosten (als Maßstab für die Bedeutung, den Wert, oder Umfang einer Maßnahme) sind zu erwarten?
  4. 4.Wie hoch sind die Kosten je betroffener Mensch? (Das fördert die Anschaulichkeit.)
  5. 5.Bis wann sind diese Kosten wieder herein geholt? (Etwa: Wann hat sich die bessere Ausbildung der Kinder bezahlt gemacht? Wie lange dauert es, bis ein energetisch saniertes Haus die Kosten der Sanierung durch verringerte Energiekosten und Schonung der Umwelt und des Klimas wieder herein geholt hat?)
  6. 6.Belastet das die Umwelt und die Nachkommen?
  7. 7.Welchen Nutzen bringt die Maßnahme?
  8. 8.Welche Wahlmöglichkeiten gibt es? (Etwa einen Weg zu Fuß, mit dem Rollschuhen, Fahrrad, Reittier, Moped, Motorrad, Auto, Taxi, Bus, Bahn, Schiff oder Flugzeug zurück zu legen.)
Grundlagen sind teilweise bereits vorhanden
Vorarbeiten für eine derartige Entscheidungsfindung bieten zum Beispiel die Lebenszyklus-Untersuchungen von Waren und Dienstleistungen, Systemanalysen, aber auch Wirtschaftlichkeitsberechnungen, wenn die tatsächlichen Kosten und nicht nur die am Markt auftretenden einkalkuliert werden.
Die Sommerzeit, einst aus Gründen der Sparsamkeit eingeführt, hat sich mittlerweile als weitgehend unwirksam entpuppt und führt zu erheblichen, oft unerwarteten Nebenwirkungen (von Wildunfällen im Frühjahr, wenn die Autos aus Sicht der Rehe plötzlich früher fahren, über Störungen des Tagesrhythmus bis hin zu erhöhtem Aufwand für das Umstellen der Uhren). Vermutlich wäre eine freiwillige Möglichkeit im Sommerhalbjahr früher aufzustehen und zur Arbeit zu gehen für alle Frühaufsteher ideal. Wenn dann die Nachteulen zur gewohnten Zeit aufstehen könnten, würden die Stoßzeiten im Berufsverkehr länger, also weniger belastend, weil sich der Verkehr verteilen würde. Eine derartige Regelung würde den verschiedenen Menschentypen besser bekommen und in der Summe vermutlich sogar mehr Leistung am Arbeitsplatz ermöglichen, eben weil jeder weitgehend seinem Rhythmus folgen könnte.  
Im Grunde geht es bei diesem Beispiel darum, ob man alles vom Staat her regeln muss und soll, oder ob nicht Regelungen besser wären, die einen gewissen Spielraum für den Einzelnen bieten. Dass auch diese Regelungen nie für alle ideal sein werden ist klar. Aber vielleicht würde man im Laufe der Jahre lernen, welche Freiräume nützlich sind und welche ein verzichtbarer Luxus?
Irgend wo zwischen allmächtigem „Vater Staat“ (Absolutismus) und weitgehender Freiheit (auf „Mutter Erde“?) dürfte es Bereiche geben, die für den größten Teil der Menschen angemessen und angenehm sind. Man müsste sie allerdings suchen und erproben.
Vielfalt - Reichtum oder Bedrohung?
Vielfalt gibt es. Aber die Vielfalt, die uns heute zu Schaffen macht, ist vom Menschen geschaffen und beruht auch darauf, dass es an der gedanklichen Genauigkeit und Ordnung fehlt, um die scheinbare Vielseitigkeit der Welt in Bezug auf den Menschen auf einige wenige Grundbedürfnisse zu reduzieren und damit auch verständlich und handhabbar zu machen.
Es ist wie beim Aufräumen: Wenn ich keinen Platz habe, an den ich die Gegenstände tun will, kann ich nicht aufräumen. Genauso kann ich nicht aufräumen, wenn ich genug Platz, aber keine Idee habe in welcher Ordnung die Dinge darin Platz finden sollen. Wenn man ständig neue Dinge ins Haus holt, dann ist das irgend wann voll und sehr wahrscheinlich unordentlich, weil einem die Übersicht und die Ordnung irgend wann verloren gehen, zumal die Dinge, die ins Haus kommen wohl kaum in der Reihenfolge und Menge kommen, in der man sie entsprechend dem vorhandenen Platz unterbringen könnte.
Die unter Punkt 8 erwähnten Fortbewegungsmöglichkeiten lassen sich nach Land, Wasser und Luft sortieren, aber auch danach, ob es die eigene Kraft ist, die einen vom Fleck bringt, oder eine fremde helfende Kraft, wie Reit- oder Zugtiere (Energie von Lebewesen), oder Motoren mit anderen Formen der Energie. Eine andere Sortierung wäre, ob Räder eine Rolle spielen, oder nicht, ob man einen Infrastruktur (Straße Hafen, Flughafen, Bahnhof) benötigt, oder nicht. Eine weitere Kategorie wäre, ob ich die Wegstrecke individuell bestimmen kann, oder ob ich einer fremden Vorgabe (Fahrplan) folgen muss.
Ungenauigkeit erzeugt Verwirrung
Die heutigen Schwierigkeiten mit Vielfalt umzugehen beruhen auch darauf, dass es uns an Zeit und Muße fehlt die für den jeweiligen Zweck geeignete Ordnung, Sortierung, Kategorisierung zu wählen und dadurch Klarheit zu gewinnen.
Zum Beispiel wird das Wort „Medien“ häufig ungenau benutzt. Eigentlich sind Medien Vermittler, egal, ob man nun an eine Séance denkt, oder an Massenmedien, wie Zeitung, Radio, Fernsehen oder Internet. Aber Vermittler sind auch Bote, Brief, Fax, Pager, E-mail, Telefon, SMS, Chat, Internet. Versucht man eine Ordnung zu finden, dann kann man natürlich die bewährten Ordnungen nehmen und entsprechend dem ABC, oder nach Datum sortieren, was aber schon bei Telefonaten schwierig wird. Man kann Medien aber auch danach beurteilen, ob sie Einbahnstraßen sind, oder Gegenverkehr möglich ist. Letzteres wäre uneingeschränkt das Telefon; alle Anderen haben nur eine zeitlich verzögerte Rückmelde-Möglichkeit. Genauso kann man den Zeitablauf zum Kriterium machen. Dann bieten Telefon, Radio, Fernsehen und Internet die Möglichkeit der augenblicklichen Übermittlung von Informationen. Wobei heute viele Sendungen vorproduziert sind und nur abgespielt werden. Aber bei anderen Medien ist eine zeitliche Verzögerung vorhanden. Der Bote muss den Weg gehen, der Text muss geschrieben und versendet werden und können vom Empfänger mal mehr, mal weniger zeitunabhängig zur Kenntnis genommen werden. Dabei wird ein Bote nicht ewig warten wollen, während eine Mail oder ein gedrucktes Medium vielleicht erst später und vielleicht nie gelesen werden wird.
Genauso könnte man die Qualität der Begegnung über die Medien als Maßstab wählen (direkt : indirekt), oder den Aufwand. Beim Telefon genügen wählen und dran gehen, für eine Zeitung oder Fernsehschau ist ein riesiger Aufwand nötig. Bei einigen Medien geht es um den Austausch zwischen zwei Menschen, bei anderen will ein Autor möglichst viele erreichen, legt aber gar nicht so viel Wert auf eine Antwort.
 
Das Erkennen von Ordnung erfordert Zeit
Vielfalt wird zum Problem, wenn uns die richtigen Kategorien fehlen, um das Einzelne einzuordnen und diese Kategorien müssen wir selbst bilden, so wie Biologen eine Ordnung in die Vielfalt der Pflanzen und Tiere brachten, oder das Periodensystem in die Vielfalt der chemischen Stoffe. Mit genügend Zeit lässt sich für fast Alles eine Ordnung, ein Zusammenhang finden. Kritisch wird es heute auch deshalb, weil die Geschwindigkeit mit der Neues erzeugt wird, nicht auf die Geschwindigkeit Rücksicht nimmt, mit der ein durchschnittlicher Mensch sich mit Neuem vertraut machen kann. Dann erscheint sie logischer Weise als Überforderung.
Gegenmaßnahmen
Eine erste Gegenmaßnahme kann sein, dass man sich nicht auf jede neue Mode einlässt. So scheiterte das digitale Radio auch daran, dass es fast niemand haben wollte, sei es weil man genügend Radios zuhause herumstehen hatt, die man nicht alle verschrotten möchte, sei es, weil der zusätzliche Nutzen eines digitalen Radios für die meisten Menschen zu gering ist, um sie zur Ausgabe von viel Geld zu bewegen. Auch die Mode im Internet in einer künstlichen Welt mit einer digitalen Figur vertreten zu sein, flaut längst wieder ab. Es gibt Leute, die keinen Fernseher haben, oder keinen Computer, kein Auto, oder keine Spülmaschine und sie tun das nicht aus Armut, sondern, weil sie diese Dinge für sich selbst nicht brauchen.
Wenn man Ordnung in die Vielfalt bringen will, und das bedeutet sie verstehen und nutzbar machen, dann hat man es um so leichter, je weniger Vielfalt man bewältigen muss. Eine Bücherkiste in ein Regal einzusortieren geht leichter, als einen Lastwagen voller Bücherkisten in viele Regale zu verstauen. Da Vielfalt auch dadurch zum Problem wird, weil einem die verschiedensten Anbieter ständig irgend etwas Neues verkaufen wollen, kann man sich einige Arbeit sparen, indem man erst einmal abwartet und schaut, was sich im Alltag Anderer wirklich bewährt und auf was man getrost verzichten kann.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Mittwoch, 6. April 2011