Diener oder Herren?
 
Was haben die Bankenkrise, Stuttgart 21 (der Streit um einen Bahnhofsneubau), der Streit um Rundfunkreformen, z.B. bei WDR3, Exbundespräsident Wulf, und Gutenbergs ermogelter Doktor gemeinsam? In allen Fällen meinen Einzelne oder Wenige, sie könnten sich zu Herren des Verfahrens und der Gesellschaft aufschwingen. Sie wollen Maßstäbe so verändern, dass es zu ihrem Vorteil ist. Dieses der Demokratie widersprechende Verhalten, widerspricht auch dem tiefen menschlichen Bedürfnis so anerkannt zu werden, so, wie man ist, und der alten Kaufmannsweisheit: "Habe immer das Interesse Deines Kunden im Auge, dann wird er zufrieden gehen und gerne wiederkommen".
Etwas genauer:
Banken entwickelten sich sehr vereinfacht dargestellt, weil man jemand brauchte, der Geld verlieh, oder Geld sicher lagerte. Ursprünglich spiegelten die Banken also das Geschehen in der Wirtschaft und dienten allen, da sie dem Geldgeber einen Lohn (Zins) für das geliehene Geld versprachen und dem Kreditnehmer eine gewisse Verlässlichkeit und keine Wucherzinse boten. Die Banken dienten also der Wirtschaft und dem Handel. Heute dürfen Banken das Vielfache von dem verleihen, was sie an Spareinlagen haben. Damit wurden die Banken teilweise von der Realwirtschaft abgekoppelt. Der nächste Fehler war, dass die Politik den Banken Investmentgeschäfte ermöglichte, also die Banken in die Wirtschaft eingreifen konnten, egal, ob sie etwas davon verstehen, oder nicht. Banker saßen schon länger in vielen Aufsichtsräten und verfügten so über nicht jedem zugängliches Wissen über Firmen. Völlig verantwortungslos wurde es, als man den Banken auch noch Spekulationen ermöglichte, so dass sie im Extremfall auf der einen Seite Aktien eines Kunden auf den Markt bringen konnten, und zugleich Wetten auf den Kurs, oder auf dessen Verfall abschließen konnten, also unter Umständen Verrat am Kunden übten.
Damit wurden Banken vom Dienstleister von Wirtschaft und Handel zum Herren über Wohl und Wehe der Wirtschaft und auch der Staaten, denn diese hatten sich mittlerweile ebenfalls verschuldet, waren also in eine Abhängigkeit von den Banken geraten. Das mag manche politische Entscheidung erklären, macht die Sache aber nicht besser. Bei Millionen- ja Milliarden-schweren Hilfspaketen, z.B. für die Hypo Real Estate oder Griechenland übernimmt der Staat und damit der Bürger die Kosten für verfehlte Geschäftspolitik der Banker. Kein Wunder, dass die sich ungeniert weiter bedienen (Boni) und keinen Anlass zur Änderung der Geschäftspolitik sehen. Sie wissen, die von ihnen abhängigen Staaten werden sie im Notfall schon stützen und bezahlen. Dass sie damit die Weltwirtschaft ruinieren könnten, ist einigen vermutlich nicht mal bewusst, geschweige denn stört es sie, solange sie ihre Schäfchen im Trockenen haben.
Stuttgart 21, die Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofes unter die Erde, war von Anfang an nicht darauf angelegt die Bürger in die Planung mit einzubeziehen, weil die Interessen einiger weniger Macher dem im Wege standen. Dem Bürger wurde das Projekt damit schmackhaft gemacht, dass die Grundstückserlöse des frei werdenden Gleisgeländes die Kosten des Projektes decken würden (Heute gehen die Verantwortlichen von 4,5 Mrd aus. Projektkritiker von bis zum Doppelten). Fragen, Anregungen und Bedenken wurden von Anfang an nicht zugelassen, wie eine Karikatur von 1996 in der Stuttgarter Zeitung oder Protokolle der Ratssitzungen belegen.
Die Planung zum Bahnhofsneubau wurde vorübergehend von der Bahn eingestellt, weil die Kosten den Nutzen überwiegen, dann aber auf Betreiben der Landesregierung (MP Oettinger) und auf Grund von Zusagen finanzieller Zuschüsse des Landes wieder aufgenommen. Im Klartext: gewählte Politiker haben zu ihrem eigenen Nutzen und gegen die Interessen der Bürger die Demokratie ausgehebelt, indem sie Verträge schlossen, die zugunsten von Bahn und Bund und zu Lasten von Steuerzahlern, Stadt und Land gehen. Dass dabei die Wirtschaftslobby erheblich beteiligt war, darf man auf Grund der Aussagen des Chefs der Tunnelbohrmaschinenfirma durchaus annehmen.
Was fast noch schwerer wiegt: Eine gründliche Prüfung des riesigen Projektes durch die Parlamente, ja sogar die Fachbehörden unterblieb weitgehend, teils, weil die Fakten gar nicht auf den Tisch kamen, teils weil der Umfang den einzelnen Parlamentarier schlicht überforderte. Dass nicht jeder Parlamentarier auch die notwendigen Kenntnisse gehabt hätte um jedes Problem zu erkennen, liegt nahe. Das Interesse der Bahn, die sich dank der Politik als Privatfirma geriert, die nicht auskunftspflichtig ist (wie eine Behörde) besteht darin statt der Sanierung des alten Bahnhofes, die sie selbst zahlen müsste (deshalb verlotterten so viele Bahnhöfe vor dem geplanten Börsengang) einen Neubau zu bekommen, den die öffentliche Hand bezahlen müsste.
Es geht der Bahn also nicht darum ihre Kunden so gut wie möglich zu bedienen, sondern sich als profitables Unternehmen darzustellen, dass Gewinn macht und an die Börse könnte. Der Fahrgast, der Bahnkunde verkam zum "Beförderungsfall".
Dass die Politik das mitmacht, dürfte daran liegen, dass viele Politiker nicht mehr wissen, was das Wort "Minister" bedeutet. Es ist Latein und eng verwandt mit dem Ministranten, dem Messdiener im katholischen Gottesdienst und heißt übersetzt schlicht "Diener". Ein Ministerpräsident ist der Vorsitzende Diener seines Landes und nicht dessen Chef, wie manche Medien fälschlicherweise schreiben.
Rundfunkreformen gab es früher kaum, solange das Medium stetig wuchs und immer neue Programme hinzu kamen, die sich an verschiedene Nutzergruppen wandten. Die stete Frage in den Redaktionskonferenzen war: Was müssen unsere Hörer wissen (Nachrichten)? Was könnte unseren Hörern nutzen (Service)? Was gefällt unseren Hörern (Unterhaltung)? Die Programmmacher sahen sich als Diener der Hörer. Aber wie ein guter Diener dem Bedienten rät einen Regenschirm mit zu nehmen, wenn es nach Regen aussieht, machten sich die Leute im Sender Gedanken, was den Nutzern gut täte.
Der große Wandel kam, als mit Einführung des Privatfunks klar wurde, dass der Kuchen neu verteilt werden würde. Zwar versprach die Politik vollmundig Bürgersender und mehr Teilhabe, zugleich aber machte sie die Einschaltquote (Einfaltsquote) zum Maß aller Dinge. Damit wurde das Fesseln der Nutzer zum obersten Ziel. Dass das der Werbewirtschaft sehr gelegen kam, weil sie nun einen besseren Zugang zu bestimmten Zielgruppen bekam, sei nur nebenbei erwähnt. Um die Werbemilliarden entbrannte natürlich ebenfalls ein Wettstreit, der der Einschaltquote zusätzliche Beachtung verschaffte.
 Damals entstand das Formatradio, also Programme, die ganz gezielt eine bestimmte Hörergruppe ansprechen sollen und wer nicht dazu gehört, hat halt Pech. Das war der erste Bruch mit dem Auftrag der Öffentlich Rechtlichen eine Grundversorgung für Alle zu liefern. Damit wurde aber zweitens die Form über den Inhalt erhoben. Etwas, was es in der gesamten lebenden Natur nicht gibt, was aber auch jeder gute Designer oder Layouter als kompletten Unfug ablehnen würde. "Form follows function" (die Form folgt der Funktion) heißt dort die Devise.
Die Hörer sollten also nicht mehr in ihrer Vielfalt ernst genommen werden, sondern wurden genormt. Im WDR gibt es sogar ein fiktives Paar, für das die Journalisten, Redakteure, Moderatoren und Musikredakteure Programm machen sollen. Wen das an totalitäre Systeme und "neue Menschen, oder "arische Herrenrasse" erinnert, liegt vielleicht gar nicht so falsch. Jedenfalls dient das Programm nicht mehr den Menschen, sondern der Einschaltquote und damit finanziellen und Macht-Interessen. Die Menschen dienen dem Programm nur noch als Beleg, dass man es geschafft hat sie zu erreichen. Ob ihnen das nützt, oder wie bei Murdochs  amerikanischen Sender Fox nachweisbar zu deren Verdummung beiträgt, spielt keine Rolle.
Kein Wunder, wenn sich die Sendeleitung bei Reformen zum Herrn im Haus stilisiert und auf den Rat, die Erfahrung, die Kenntnisse der Mitarbeiter keinen Wert legt, dafür aber auf externe Berater hört, die mit wirtschaftswissenschaftlichem "Neusprech" offenbar großen Eindruck hinterlassen. Wie sonst ist es zu erklären, dass auch der Öffentlich Rechtliche Rundfunk - wie die Bahn - sich nicht mehr als Diener seiner Nutzer sieht, sondern meint sie bevormunden zu müssen und in Gruppen einzuteilen versucht, die den größtmöglichen Nutzen beim geringst möglichen Aufwand versprechen.
Kein Wunder, dass sich gerade in der Kulturwelle WDR3 gegen dieses Menschenbild und diese Vorgehensweise heftiger Widerstand regt. Die Kulturschaffenden haben sich noch nicht so sehr an das Primat der Wirtschaft angepasst und machen sich selbst Gedanken zum Menschenbild und zum Auftrag der ARD. Sie haben Kontakt zu Menschen verschiedenster intellektueller Strömungen und erkennen, dass ein großer Teil des "Neusprechs" hohle Phrasen sind, die zur Verschleierung der eigentlichen Interessen dienen sollen, nicht aber dazu dass Kommunikation gelingt und gegenseitige Achtung und gegenseitiges Verständnis wachsen.
Gutenberg und Wulf sind typische Vertreter dessen, was ein Buchtitel als "Generation doof" beschrieb: Leute, denen die Form wichtiger ist, als der Inhalt, der Anschein wichtiger als die Fakten, die Position wichtiger als das Menschsein. Also versucht man die formalen Kriterien zu erfüllen, ohne sich um die inhaltlichen zu kümmern. Man liefert eine umfangreiche Arbeit ab, auch wenn man bloß fleissig kopiert hat, man pflegt einen scheinbar vorbildlichen erfolgreichen Lebensstil, merkt gar nicht, dass man dem Werbefernsehen auf den Leim geht und wenn das in Gefahr gerät beißt man wild um sich und versucht sich durchzumogeln, weil man der festen Überzeugung ist: "Das machen doch alle so!"
Damit wird aber Kants Imperativ verletzt, dass man sich stets so verhalten müsse, dass das eigene Handeln auch als Grundlage für ein Gesetz dienen könnte. Der Volksmund sagt: "Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu!" Daran haben sich die beiden nicht gehalten, oder wollen sie uns ernsthaft glauben machen, dass sie gerne betrogen werden? Nein, sie hielten sich für so clever, dass sie in der Lage wären die anderen zu täuschen und sich dadurch Vorteile zu schaffen, aber ihnen niemand auf die Schliche kommen würde, frei nach dem entsetzlichen Schlager: "Das macht doch nichts, das merkt doch einer!" Diese Hymne der Betrüger und Trickser und ihr Erfolg markierten vor vielen Jahren einen Wandel im öffentlichen Bewusstsein, weg von der Gemeinschaft und der Solidarität hin zum Egoismus, der Ellenbogengesellschaft und dem Niedermachen (Mobbing) Schwächerer.
Wenn solche Leute es bin in die höchsten Staatsämter schaffen und sich als Herren statt als Diener aufführen, dann braucht sich niemand über Parteienverdrossenheit, über Vertrauensverlust oder den Verlust gemeinsamer Werte wundern. Wenn führende Vertreter der Gesellschaft sich asozial (nicht wie Bundesgenossen) verhalten, dann zerstören sie die Fundamente gelingenden Zusammenlebens: Vertrauen und gemeinsame Werte.
 
Das Bild zeigt eine Inschrift im Alten Rathaus in Esslingen am Neckar.
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 2. März 2012