Wahl: Enttäuschungen garantiert
 
 
Folgen der Landtagswahl in Baden-Württemberg
 
Die Landtagswahl in Baden-Württemberg markiert einen Einschnitt. Nicht, weil erstmals ein Grüner Ministerpräsident wird, nicht, weil die CDU nach über 50 Jahren die Macht verlor, sondern wegen der darin sichtbar werdenden Veränderung der Gesellschaft. Hinweise darauf gab es schon länger, denn das Ansehen der Politik ist seit Jahren gesunken. 87% trauen der Politik nicht zu die Interessen der Bürger über ihr eigenes Interesse am Machterhalt zu stellen. 78% wünschen deshalb mehr Bürgerbeteiligung und 62% wollen die Dinge selbst in die Hand nehmen und nicht mehr der Politik überlassen.
Zudem halten 83% "Ehrlichkeit" für das wichtigste Erziehungsziel. Auch auf diesem Gebiet hat die Politik in den letzten Jahren eine wenig respektable Vorbild-Rolle gespielt, angefangen beim "Ehrenwort", das über den Amtseid gestellt wurde, den "sicheren Renten" oder anderen fragwürdigen Aussagen bis hin zur  teilweise abgeschriebenen Doktorarbeit.
Die Bürger haben genug von eine politischen Klasse, die den demokratischen Konsens aufgekündigt hat, um ihre Macht zu erhalten, oder ihre Unfähigkeit nicht sichtbar werden zu lassen.
Krise der Demokratie
Die Lage ist verfahren, weil die Demokratie in eine Krise geraten ist. Ihre Grundidee war mal, dass im Parlament um die besten Ideen gerungen wird und diese dann umgesetzt werden. Die Parteien sollten dieses Ringen um die besten Ideen fördern.
Da aber Organisationen immer eine Eigendynamik entwickeln, zwangsläufig nach Macht streben – auch Glaubensgemeinschaften geht das so – haben sich die Parteien „den Staat zur Beute gemacht“ (Richard Weizsäcker 1981!). Damit haben sie die dienende Rolle verlassen und sind zu Mächtigen geworden, die sogar über Gremien, wie die Rundfunkräte bestimmen, obwohl diese dem Gesetz nach gerade nicht dem Einfluss der Politik unterworfen sein sollten.
Das brachte die Parteien in die Lage Diener zweier Herren sein zu sein. Einerseits ihrem Auftrag gemäß am Ringen um die besten Ideen teilzunehmen, was selbstverständlich zur Folge hat, dass man nicht immer die besten Ideen haben kann, nicht immer als der Klügste, Weiseste da stehen kann. Und andererseits müssen sie dafür sorgen, dass die eigene Macht nicht in Frage gestellt wird, damit Parteimitglieder und Wähler ihnen treu bleiben, was sich dann bei der Finanzierung der Parteien oder der Wahlkämpfe in Geld (Zuschüsse) umsetzen lässt. Dafür aber sollte man zumindest stets den Anschein erwecken, als ob man der Weiseste, der Klügste wäre.
Da Dienen weniger Spaß und Ehre bereitet, als die Macht zu erhalten und zu mehren, haben sich die etablierten Parteien schon vor vielen Jahren heimlich für die Macht und gegen das Volk, oder genauer den verfassungsgemäßen Dienst am Gemeinwesen entschieden.
Bürger verärgert
Auch wenn das keine Partei laut verkündet hat, oder zugibt, fühlen sich Bürger mit ihren Anliegen immer weniger ernst genommen und vertreten. Als die etablierten Parteien das Thema Umwelt am liebsten gar nicht, oder nur mit spitzen Fingern anfassten, entstand aus dem Engagement besorgter Bürger die Umweltbewegung und daraus die Grünen. Das war sozusagen die „Gelbe Karte“ für die etablierten Parteien. (Die Linke wäre dann die "Rote Karte" und als nächstes folgt der Spielabbruch.)
Da bei so einem Vorgang häufig junge begeisterungsfähige Menschen beteiligt sind, kommt es fast zwangsläufig auch zu Fehlern, oder Fehleinschätzungen, die man dann der ganzen Gruppierung zur Last legt, um sie als unfähig, unzuverlässig, leichtsinnig, unverantwortlich oder politisch nicht tragbar charakterisieren zu können. Damit soll der Wähler vor ihnen gewarnt und natürlich die eigene Macht gesichert werden.
Anfängerfehler und Meisterschaft
Dass Anfänger mehr Fehler machen, als erfahrene alte Meister, liegt aber in der Natur der Sache. Das heißt weder, dass ihre Anliegen gut, noch dass sie schlecht wären, sondern nur, dass es ihnen noch an Erfahrung mangelt. Die Grünen haben ja mittlerweile mehrfach in Städten, Ländern und Bund Verantwortung übernommen, ohne dass es zu Katastrophen gekommen wäre. Auch Parteien brauchen Zeit um Erfahrungen zu sammeln und zu reifen, selbst, wenn einzelne Parteimitglieder durchaus über Lebenserfahrung verfügen mögen.
In einer ähnlichen Lage, wie einst die Grünen, ist heute die Linke. Sie entstand nicht nur, weil die Reste der SED eine Heimat suchten, sondern auch Sozialdemokraten, die Schröders Egotripp als Kanzler nicht folgen mochten oder konnten. Dass sich die SPD in der Regierung im Bund schwer tat, lag nicht nur an den von Helmut Kohl liegen gelassenen Aufgaben, sondern auch daran, dass es ihr an Erfahrung und Routine, vielleicht aber auch an Beziehungen zu Teilen der Wirtschaft fehlte. Da kann man dann leicht behaupten, diese Partei könne einfach nicht regieren.
Aus Loyalität kann Filz werden
Jede Partei, die nach längerer Zeit an die Macht kommt findet in den Ministerien eine Art Bodensatz ihrer Vorgänger vor. Das mögen durchaus loyale Beamte sein, die aber wegen ihrer Art, oder ihres Parteibuches von der vorigen Regierung eingestellt wurden und manchmal auch in deren Denkweisen verhaftet sind. Das lässt sich kaum vermeiden und hat auch gute Seiten. Diese Leute wissen, wie und warum Entscheidungen so und nicht anders gefällt wurden. Und sie verhindern ein zu abruptes Umsteuern, das die Bevölkerung überfordern könnte. Aber sie bremsen eben auch den Aufbruch zu neuen Ufern, wenn es zu einem Regierungswechsel kommt.
Das ist auch in Baden-Württemberg nicht anders, sondern eher verstärkt der Fall, weil die CDU  57 Jahre an der Macht war. Da mag es Abteilungen in Ministerien geben, die sich längst nicht mehr vorstellen können, dass man irgend etwas auch ganz anders gestalten könnte. Nicht aus bösem Willen, sondern aus purer Gewohnheit.
Regierungswechsel meist enttäuschend
Das ist einer der Gründe weshalb nach einem Regierungswechsel sich die kühnen Träume der neuen Regierung fast nie umsetzen lassen. Auch daran scheitern Wahlversprechen. Daneben gibt es vermutlich fast immer „Leichen im Keller“, also Altlasten, oder Verpflichtungen, die die vorige Regierung nach Möglichkeit nicht veröffentlicht hat, die aber den Spielraum der neuen Regierung einengen, sobald sie davon Kenntnis erhält.
Aus diesen Gründen wird der Regierungswechsel in Baden-Württemberg zu Enttäuschungen führen, selbst, wenn es Grünen und SPD gelänge das Projekt der Bahn zu stoppen und den Ausstieg aus der Kernenergie voran zu treiben. Zudem zeichnen sich seit Jahren Probleme ab, die nicht rechtzeitig angepackt wurden, seien es die Staatsfinanzen, die sinkenden Steuereinnahmen, wenn die Bevölkerung immer mehr Rentner und immer weniger Kinder aufweist, oder die Vernachlässigung von Universitäten, Schulen, oder der Instandhaltung der Infrastruktur.
Versagen Etablierter
Hier kommt ein weiteres Versagen der etablierten Parteien in den letzten Jahrzehnten hinzu. Da man schon lange an der Macht war, meinte man, man mache alles richtig. Damit ging die Fähigkeit zur Selbstkritik und zur nüchternen Einschätzung der Lage verloren. Man schloss Cross-Border-Leasing-Verträge, weil man auf schnelles Geld hoffte, obwohl ein Blick in die Gemeindeordnung in vielen Fällen gezeigt hätte, dass das unzulässig war. Man investierte auf Pump und privatisierte was sich nur verkaufen ließ. Wer die Zeche zahlen würde, das interessierte nicht.
Da der Bürger in Folge dessen nicht nur billigere Telefongebühren bekam, sondern auch schlechteren Service, zweifelte er bald an der Weisheit der großen Sprüche von Finanzberatern und Parlamentariern. Statt dem versprochenen Paradies auf Erden kehrten die Bettler in die Straßen zurück, war die Bahn nicht mehr wetterfest, kletterten Energiepreise und Investoren verschandelten die Innenstädte mit Renditeobjekten. Zugleich stieg die Zahl derer, die mit ihrem Einkommen nicht mehr auskommen und staatliche Unterstützung brauchten. Da halfen dann auch keine Tricks mehr, die die Zahl der Arbeitsuchenden künstlich niedrig halten. Der Bürger merkte, dass die Politik ihre Versprechen nicht mehr einlöste.
Pfusch verstärkt die Krise
Schlimmer noch: Immer öfter beanstandeten die höchsten Gerichte mangelhafte Gesetze und Verordnungen. Der Gesetzgeber schluderte also obendrein. Die Wahlbeteiligung sank, weil der Eindruck entstand, man könne ja doch nichts machen. Dabei handelte es sich nicht, wie oft fälschlicher Weise behauptet um Politikverdrossenheit, sondern um Parteienverdrossenheit. Politikerskandale, Betrug bei der Parteienfinanzierung, Kungeleien mit den Medien und fragwürdige Aufsichtsratsposten taten ein Übriges.
Wer heute den Politikbetrieb beobachtet, hat immer häufiger den Eindruck, dass die Damen und Herren selbst nicht wissen, wie die Probleme zu lösen sind, sondern viel zu oft den Mund aufmachen, ehe sie gründlich nachgedacht haben. Bei sehr vielen Entscheidungen ist keine klare Linie erkennbar, kein Konzept. Dafür ertönt fast schon stereotyp nach jedem Skandal, jedem größeren Unfall oder Verbrechen der Ruf nach neuen Gesetzen, oder Vorschriften, damit so etwas nie wieder geschehe. Dabei mangelt es oft nicht an Gesetzen, sondern deren Umsetzung und Kontrolle.
Übersprungshandlungen oder Alibi?
Gerade dieses zu Allem und Jedem ein Gesetz, eine Vorschrift erlassen zu wollen, lässt die Welt immer unübersichtlicher erscheinen. Italien, das in dieser Hinsicht schon weiter ist, hat so viele Gesetze, dass niemand weiß wie viele und niemand mehr den Überblick hat, geschweige denn sich daran hält.
Diese Unübersichtlichkeit weckt beim Bürger Ohnmachtsgefühle und fördert bei Parlament en den Hang zum Berufspolitiker. Der ist dann aber von seiner Partei abhängig und nicht mehr so frei, wie es das Grundgesetz fordert, nämlich, dass er oder sie nur dem Gewissen zu folgen habe. Das wiederum fördert die Entfremdung zum Alltag der Bürger. Politiker und Bürger sprechen immer seltener die selbe Sprache.
Gewissen oder Fraktion?
Statt der Gewissensentscheidung wird immer wieder der Fraktionszwang eingesetzt, um die Macht zu sichern. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die Welt scheinbar immer komplizierter wird. Dabei ist der größte Teil der Probleme und Verwicklungen von Menschen gemacht. Oft aus Ungeschicklichkeit, manchmal mit Absicht um sich einen Vorteil zu sichern. Die Grundprobleme Essen, Trinken, Wohnen, Gesundheit, und Bildung, die zu Arbeit und bescheidenem Wohlstand führt, sind gleich geblieben. Die Zahl der Menschen steigt, aber auch die Zahl der Hungernden und der Flüchtlinge.
Der Bürger in einem der reichsten Länder der Welt zweifelt an der Kompetenz der Regierenden, wenn es nicht einmal gelingt allen Kindern in der Schule die gleichen Chancen zu gewähren, ja es sogar manchmal am Mittagessen in der Schule hapert, nachdem man den Schulbetrieb umgestellt hat. Oder, wenn Staatliche Betriebe bei der Privatisierung Hunderttausende von Arbeitslosen schaffen, die der Steuerzahler dann unterhalten muss und, wenn sie nicht rasch Arbeit finden, noch einmal wird unterstützen müssen, wenn sie in Rente gehen, weil die zu gering ausfallen wird.
Demokratie spart Energie
Nun ist eine Demokratie eigentlich eine sehr vernünftige Sache. Man wählt Menschen, von denen man annimmt, dass sie ähnlich denken, wie man selbst, damit sie für einen all die Dinge regeln, die man als Einzelner gar nicht durchschauen und bearbeiten könnte. Wenn aber die Gewählten diese Aufgabe nicht mehr erfüllen, sei es, weil sie zu bequem sind, sei es, weil sie überfordert sind, sei es, weil sie diese Aufgabe gar nicht mehr als ihre Aufgabe ansehen, dann führt diese Verweigerung der durch die Wahl verabredeten Arbeitsteilung dazu, dass der Bürger sich nicht ernst genommen fühlt, um es einmal milde zu formulieren.
Da diese Leistungsverweigerung schleichend um sich griff, bemerkten sie zunächst nur wenige, dann immer mehr, was zum Verlust des Vertrauens in die etablierten Parteien führte und zur Gründung von Bürgerinitiativen und neuen Parteien.
Stuttgart 21 ein Menetekel
Am geplanten Umbau des Stuttgarter Bahnhofes wurde deutlich, dass die Politik den Bürger eigentlich nur noch als störende Größe betrachtete. Bahnchef und Politiker verabredeten ein Projekt, dessen tatsächliche Folgen keinem klar waren, von den Kosten ganz zu schweigen und  schlossen einen Vertrag ohne Ausstiegs-Klausel, der für die Bürger keinerlei Mitsprache vorsah. Den Bürger hoffte man durch ein paar schöne Bilder und Texte zu befriedigen. Es geht hier   nicht um pro und contra Stuttgart 21, sondern darum, dass an diesem Projekt die Leistungsverweigerung der Parlamentarier sichtbar wurde und eine Arroganz der Mächtigen, die in einer Demokratie fehl am Platze sind.
Beklagenswert ist hier auch, dass die Medien ihre Wächterrolle kaum gespielt haben, was auch daran lag, dass sie sich von Bahn und Politik immer wieder mit ein paar Informationsbröckeln abspeisen ließen, und sich niemand der Mühe unterzog das ganze Projekt rechtzeitig zu prüfen, oder aber, falls dafür die Unterlagen fehlten (wie in diesem Fall), darauf hin zu weisen und vor dem  Vertragsabschlüssen zu warnen (wie der Bundesrechnungshof).
Völlig unnötiger Streit
Der ganze Streit um das Projekt wäre vermeidbar gewesen, wenn vor Vertragsabschluss alle Fakten bekannt gemacht und gründlich in den Parlamenten und vor Allem mit den Bürgern erörtert worden wären. So entstand schon früh der Eindruck, dass hier hinter verschlossenen Türen Entscheidungen gefällt wurden, von denen der Bürger nichts wissen, die er aber bezahlen sollte. Genau das geht in einer Demokratie nicht. Der Bürger muss sich über Entscheidungen der Gewählten informieren können, um sie bewerten und nötigenfalls dagegen Einspruch erheben zu können. Geheimverträge, wie bei LKW-Maut oder bei S21 mit der Bahn, die im Besitzt des Bundes ist, verstoßen gegen demokratische Prinzipien. Transparenz wurde in diesem Fall aber nur formal in der Planfeststellung eingehalten, nicht aber inhaltlich in einer breiten Debatte in der Öffentlichkeit und den Medien.
Nützliche Auseinandersetzung
Dass das in einem Land geschieht, in dem eine Partei seit 57 Jahren an der Macht ist, dürfte kein Zufall sein, denn Gewohnheiten machen nachlässig. Es geht bei Stuttgart 21 eben nur oberflächlich betrachtet um ein Infrastruktur-Projekt, aber in Wirklichkeit geht es um die Frage, ob unsere Demokratie noch so funktioniert, wie es sich die Väter des Grundgesetzes dachten, oder ob sie nicht mehr funktionstüchtig ist, weil die Parteien zu Adelsfamilien mit Erbhöfen mutierten, die jegliche Kritik als Majestätsbeleidigung betrachten und den Bürger nur noch als Störfaktor, den man mit Brot und Spielen (Hartz IV und Privatfernsehen) ruhig stellen muss.
Landtagswahl zwangsläufig enttäuschend
Weil das so ist, kann die Wahl - trotz des Wechsels - eigentlich nur zu Enttäuschungen führen:
  1. Die Wähler von Grün-Rot, werden von der neuen Regierung – zumindest in der ersten Wahlperiode enttäuscht sein, weil sie gar nicht so rasch den Kurs wechseln kann, wie sie vielleicht selbst und in jedem Fall ihre Wähler wünschen. Sollte es nicht zu einer Änderung bei Stuttgart 21 und einem raschen Atom-Ausstieg kommen, sogar sehr.
  2. Im schlimmsten Fall fände die neue Regierung  Hinweise auf  Verfehlungen der bisherigen Regierung und müsste sich mit der Aufarbeitung dieser Vorgänge beschäftigen, statt ihre eigentliche Arbeit anpacken zu können.
  3. Obendrein ist zu erwarten, dass die bisherige Regierung sich zunächst mal mit der Oppositionsrolle schwer tut und eher (wie im Stuttgarter Rathaus) auf Behinderung der neu gewählten Mehrheit setzt. Vorerst käme es auch nicht zu einer - unbedingt wünschenswerten - personellen und geistigen Erneuerung, da das ein länger dauernder Prozess ist. Also fehlte es vorläufig an einer Opposition, die ihre Aufgabe ernsthaft und mit Elan anpackt. Damit sinkt aber die Qualität des Gesamtsystems Parlament.
  4. Auch in der Wirtschaft wird es Kräfte geben, die bei einem Sieg der Opposition nach Kräften dagegen agierten. Das kennt man aus dem Bund und anderen Ländern. Die dadurch hervor gerufenen Schäden wird man aber nicht diesen Leuten, sondern der neuen Regierung anlasten.
  5. In dieser Lage darf man auch von einer neuen Regierung keine weitgehende Erneuerung der Demokratie erwarten, selbst, wenn sie die Mitwirkung der Bürger vereinfacht.
Enttäuschte Bürger:
Aus Sicht der Bürger ergibt sich nach der Wahl:
  1.     Die Wähler von Grün-Rot, werden von der neuen Regierung – zumindest in der ersten Wahlperiode enttäuscht sein, weil sie gar nicht so rasch den Kurs wechseln kann, wie sie vielleicht selbst und in jedem Fall ihre Wähler wünschen. Sollte es nicht zu einer Änderung bei Stuttgart 21 und einem raschen Atom-Ausstieg kommen, sogar sehr.
  2.     Die Wähler von Schwarz-Gelb werden enttäuscht sein, weil es nach dieser Wahl eine Weile dauern wird, bis sich die Parteien personell und inhaltlich so erneuert haben, dass sie zunächst mal eine anständige Oppositionsarbeit leisten können. In der Opposition muss man selbst neue Ideen entwickeln, in der Regierung kann man manche Idee der Opposition aufgreifen und entweder als liberale Haltung oder eigene Idee ausgeben. Das geht nun nicht mehr.
  3.     Alle Wähler werden enttäuscht, wenn es nicht gelingt den Graben, den Schwarz-Gelb durch den Lagerwahlkampf vertiefte, nicht auf ein erträgliches Niveau zu planieren. Dass das geht zeigte der größte Teil der Befürworter und Gegner von Stuttgart 21, die bei allen Gegensätzen friedlich blieben.
Bundesweite Bedeutung
Die Wahl wird auch über Baden-Württemberg hinaus Wirkungen zeigen:
  1.     Die übrigen Bundesbürger werden ebenfalls zu viel von der neuen Regierung erwarten, weil der Aufstand der Bürger in Stuttgart von einem neuen Selbstbewusstsein der Bürger und einem großen Engagement für eine bessere Demokratie kündete. Er versprach die lähmende Parteienverdrossenheit weg zu fegen, in dem neue Leute an die Macht kämen, die den Bürgern mehr Mitsprache einräumen.
  2.     Wenn das konservative „Weiter so“ im Bund zu keiner befriedigenden Lösung der anstehenden Aufgaben (Welternährung, Energiewende, Zügelung der Finanzmärkte, Atomenergienutzung, Klimawandel und politische Instabilität) führt, dann dürfte sich auch da Enttäuschung breit machen mit der Gefahr eines Rechtsrucks.
  3.     Bundesweit käme die Enttäuschung spätestens dann, wenn sich zeigt, dass auch mehr Bürgerbeteiligung nicht zwangsläufig zu besseren Entscheidungen führen muss, sondern auch zur Bevorzugung einzelner lautstarker Interessengruppen führen kann.
Es besteht also die große Gefahr, dass sich bei vielen Bürgern Enttäuschung breit macht, wenn auch aus verschiedenen Gründen, was sogar auch Auswirkungen auf die restlichen Wahlen dieses Jahres haben könnte.
Erneuerung der Demokratie unwahrscheinlich, aber nötig
Wie wahrscheinlich diese Enttäuschungen sind, kann man auch daran erkennen, wie unwahrscheinlich es ist, dass die neue Regierung respektvoll mit der Opposition (und umgekehrt) umgeht und gemäß den Vorstellungen des Grundgesetzes durch den Austausch von Argumenten nach den wirklich besten Lösungen für alle anstehenden Probleme sucht und diese den Bürgern auch so vermittelt, dass eine große Mehrheit die gefundenen Lösungen gut heißt.
Gelingt es aber nicht die Demokratie - auch ohne die Erschütterung durch eine Krieg oder eine Krise - wieder dahin zu bringen, dass in ihren Gremien ein ernsthaftes Ringen um die für alle Bürger beste Lösung stattfindet, dann besteht die Gefahr, dass Gedankenlosigkeit, Machtstreben und Schlendrian ihr bleibenden Schaden zufügen.
Es ist also höchste Zeit, dass die Ernsthaften und die Nachdenklichen in allen Parteien wieder die Oberhand gewinnen und die IT-Girls und IT-Boys der Politik dorthin schicken, wo sie keinen Schaden anrichten. Sollen sie "Party machen" während sich der vernünftige Rest ernsthaft und mit gegenseitiger Achtung darüber streitet, wie wir in Zukunft leben wollen.
 
(Das Bild oben zeigt einen zig Jahre alten Anstecker mit der herrschaftskritischen, pessimistischen Parole:
„Wenn Wählen wirklich etwas ändern würde, hätten sie‘s schon längst verboten!“
Vermutlich beschreibt er das Gefühl der Opposition zu Zeiten unangreifbarer konservativer Macht. Wollen hoffen, dass er irrt.)
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Montag, 28. März 2011