Hat die Familie Zukunft?
2. Eltern und Kinder
 
 
Was zählt unterm Strich - ich oder wir?
 
Unerwünschte Nebenwirkungen
Der Bonner Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut Dr. Michael Winterhoff wird von den Einen verehrt, von den Anderen scharf kritisiert. Wenn man sich die Dispute anschaut, wird klar, dass da sehr viel an einander vorbei geredet wird. Winterhoff wird gerne mit dem ehemaligen Schulleiter von Salem in die Ecke derer gestellt, die junge Menschen mit Strenge auf den Weg der Tugend führen wollen.
Vielleicht hat er selbst dazu durch ungeschickte Formulierungen beigetragen, vielleicht liegt es auch an seinem sehr disziplinierten Auftreten, aber vielleicht auch in seiner und der Gegner Biografien. Es gehört schließlich mit zum Schwierigsten sich seiner eigenen Bedingtheit bewusst zu werden und diese bei der Beurteilung Anderer zu berücksichtigen. Es ist deshalb aber ebenso möglich, dass manche, die ihn loben, nur das in seinen Büchern wahrgenommen haben, was ihnen selbst gefiel.
Überforderte Eltern?
Winterhoffs Grundgedanke ist, dass Eltern unabsichtlich das Kind  dabei behindern seelisch zu reifen und seine Persönlichkeit zu entwickeln und zu entfalten. Dieses Verhalten, meint er, beruhe in vielen Fällen auf einer Überforderung der Eltern durch deren Alltag, als durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Ursprünglich hätten die Eltern auf Grund ihrer Intuition die Kinder mehr oder minder richtig behandelt. Aber heute fehle es ihnen an der nötigen Muße und Ruhe, um ihre eigene Intuition und die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen.
Man braucht nur im Frühjahr einem Vogelpaar zuzuschauen, um zu erkennen, dass die Zeit der Brutpflege eine große Herausforderung ist. Ein Meisenpaar muss angeblich bis zu 16 000 Insekten am Tag fangen, um seine Brut satt zu bekommen. Auch junge Menscheneltern sehen manchmal etwas übernächtigt aus, wenn ihr Kind nicht durch schläft, zahnt, oder krank ist. Die Kleinfamilie, bei der Großeltern und andere Verwandte nicht mehr im selben Haus wohnen, hat es besonders schwer hier für Entlastung zu sorgen, etwa indem Oma mit dem Säugling spielt, oder ihn wiegt, während die Mutter etwas Schlaf nachholt, und der Opa Besorgungen für sie macht. Kurz: Kinder können sehr anstrengend sein und die Kleinfamilie bräuchte genau dann mehr Unterstützung, als sie häufig bekommt, weil die oft von Arbeitnehmern geforderte Mobilität eben viele Familien auseinander gerissen und übers Land zerstreut hat.
Kinder als Partner?
Dass ein Säugling auf Gedeih und Verderb den Erwachsenen, meist seinen Eltern ausgeliefert ist, versteht sich von selbst. Ohne sie ist er verloren. Kein Erwachsener käme auf die Idee den Säugling oder ein Kleinkind zu fragen, wo er denn mit seinem Auto lang fahren solle, denn jedem ist klar, dass das kleine Kind das nicht wissen kann, geschweige denn die Straßenverkehrsordnung kennt. Dennoch erlebt man immer wieder Eltern, die Ihre kleinen Kinder fragen und entscheiden lassen, was sie als nächstes tun sollen.
Dahinter steckt vermutlich ein grobes Missverständnis: Selbstverständlich ist ein Kind rechtlich betrachtet eine Person mit eigenen Rechten. Und auch moralisch wird man einem Kind Rechte zubilligen, etwa auf gesundes Aufwachsen. Aber am Beispiel von Mann und Frau kann man sofort sehen, das gleiche Rechte nicht heißt, dass man auch gleich sein muss. Ein Mann kann nun mal keine Kinder gebären. Dennoch käme niemand auf die Idee die Gleichberechtigung deshalb in Frage zu stellen. Und genauso wird niemand von einer kleinen zierlichen Frau erwarten, dass sie genau so schwer trägt, wie es ein Gewichtheber könnte. Kurzum. Gleiche Rechte bedeuten nicht, dass man über unterschiedliche Fähigkeiten einfach hinweg gehen könnte.
Genau diesen Fehler machen aber einige Eltern, die kleine Kinder wie Partner behandeln. Das überfordert die Kinder:
  1. 1.  Das Kind hat nicht das Wissen des Erwachsenen und kann deshalb viele Entscheidungen gar nicht so gut treffen, wie der Erwachsene.
  2. 2.  Das Kind kann viele Folgen einer Entscheidung nicht abschätzen.
  3. 3.  Das Kind kann noch nicht mit einer so großen Freiheit umgehen (selbst manche Erwachsene haben Mühe Freiheit vernünftig auszufüllen).
  4. 4.  Das Kind wird mit Aufgaben belastet, die seine Fähigkeiten weit übersteigen.
  5. 5.  Das Kind kann die Rolle des Partners noch gar nicht ausfüllen.
Besonders Alleinerziehende nach einer Trennung neigen dazu das Kind nun als Partnerersatz zu missbrauchen, eben, weil ihnen der Partner abhanden gekommen ist.
Den Kindern schmeichelt es zunächst, dass sie so ernst genommen werden, aber vor Jungen neigen dann dazu der Mutter den verlorenen, oder verjagten Mann ersetzen zu wollen. Sie meinen dann Chef spielen zu können und bemühen sich sicherlich in vielen Fällen redlich, das so gut, wie möglich zu tun. Nur wird dann die Mutter ihrer Rolle als Elternteil nicht mehr gerecht, weil sie dem Kind nicht mehr mit ihrem Erfahrungsvorsprung als Erwachsener und Vorbild (für die weibliche Seite seiner Persönlichkeit) gegenüber tritt, sondern sich auf seine unreifere Stufe hinab begibt. Für das Kind ist das etwa so, wie wenn man einer Tomatenpflanze keinen Stock als Halt gibt (sie knickt dann entweder ab, oder liegt am Boden, wo sich die Früchte weniger gut entwickeln und mehr Krankheiten und Fäule drohen).
Das kleine Kind braucht aber Vorbilder um sich zu Orientieren und kann mehr lernen und mehr reifen, wenn es Menschen hat, denen zuliebe es fähig ist Dinge zu tun, die es sonst aus eigenem Antrieb nicht tun würde, oder könnte. In einem gewissen Alter sollten zum Beispiel Jungens glauben dürfen: "Mein Papa ist der Größte!" Daraus spricht Geborgenheit und Vertrauen. Diese Ansicht wird das Kind bald wieder ablegen, allerspätestens in der Pubertät, wenn es beginnt die Eltern kritisch zu sehen.
Wer dagegen - sicherlich meistens gut gemeint - alle seine Sorgen mit dem Kind teilt, weil er oder sie ihm keine heile Welt vorspiegeln, es nicht belügen will, der überfordert es in jungen Jahren, in denen das Kind noch genug damit zu tun hat sich selbst zu entwickeln, seinen Körper in den Griff zu bekommen (Motorik), die Sprache zu meistern und die Welt zu begreifen, zu betasten, ein Gespür für Dinge zu bekommen. Erst, wenn das Kind einen Be-"griff" von den Dingen hat und sich seiner selbst bewusst ist, kann es sich mit ihnen auseinandersetzen.  
Man kann sich das vielleicht so vorstellen, wie bei Pflanzen, die in einem frühen Stadium im Pflanzbeet oder Gewächshaus unter Glas vor dem Wetter geschützt werden und erst ab einer gewissen Größe und Robustheit ins Freiland ausgesetzt werden. So ähnlich darf, ja muss ein Teil der Kindheit geschützt und behütet sein, damit das Kind zunächst mal so viel Vertrauen in die Welt und so viel Stärke entwickelt, dass es später mit wachsenden Herausforderungen umgehen kann.
Winterhoffs Kritiker interpretieren das so, als ob die Eltern dem Kind Alles diktieren müssten, es keinerlei Entscheidungen treffen dürfe. Dabei geht es doch nur darum dem Kind keine Aufgaben, oder Entscheidungen abzuverlangen, die es überfordern. Ob es lieber eine Marmeladebrot oder ein Honigbrot isst, ob es lieber in den Zoo oder ins Schwimmbad möchte (vorausgesetzt es kennt beide) das kann man durchaus fragen. Das Kind mit den vielfältigen Aufgaben einer Partnerschaft zu belasten wäre etwa so, als ob man es auffordert zwei volle zehn Liter Wassereimer zu tragen. Das würde seinem Körper nicht gut tun und kein vernünftiger Mensch erwartet so etwas von einem kleinen Kind.  
Kinder als Liebende?
Ebenfalls nahe liegend, vor allem nach einer Trennung oder in einer unbefriedigenden Beziehung, ist der Wunsch von seinem Kind geliebt zu werden. Liebe kann man anscheinend nie genug bekommen. Aber Erwachsene, die von ihrem Partner erwarten, dass er nicht mickrig ist, sie wenn schon nicht schön, so doch gepflegt wirkt, also den Wunsch haben, den Partner achten und wertschätzen zu können, dürften eigentlich von keinem Kind erwarten, dass es ihnen bereits als gleichwertiger Partnerersatz liebevoll gegenüber tretend kann.
Natürlich lieben Kinder ihre Eltern. Sie schauen voller Bewunderung und mit einer gewissen Hochachtung auf ihren Papa, der so stark ist, dass er eine volle Gießkanne, Stühle, oder Autoreifen tragen kann, oder die Mama, die so leckere Mahlzeiten kocht, so schöne warme Sachen strickt, oder lustige Spiele kennt. Und die Kinder möchten selbst mal so groß werden und das Alles können.
Das zeigt schon die Liebe eines Kindes ist etwas Anderes als die Liebe zwischen Erwachsenen (vom Sex mal ganz abgesehen). Wer möchte schon so werden wie der Partner? Das wäre ja langweilig. Die Liebe eines Kindes zu den Eltern dient auch dazu, dass das Kind reift und mit ihrer Hilfe lernt. Eben indem es den Eltern zuliebe in den Kindergarten geht, oder etwas Anderes - zunächst Schwieriges oder mit einer gewissen Angst Verbundenes - ausprobiert. In gewissem Sinn ist die Liebe des Kindes zu seinen Eltern selbstsüchtig, weil sie seiner Entwicklung und Reifung dient, aber eben nicht nur.
Und die Elternliebe ist ebenfalls anders, als die zum Partner. Elternliebe ist ohne Bedingungen. Sie liebt zunächst mal einfach das Kind. Die Natur hilft da mit dem Kindchen-Schema nach (Großer Kopf, kleiner Körper), das Kinder als "süß, niedlich, herzig" erscheinen lässt. Ganz besonders schwer hat es die Mutter, die erlebt, wie ein Teil von ihr geboren und abgetrennt wird, den sie dann im Laufe des Lebens immer mehr frei geben muss. Der Vater hat zumindest vorübergehend die Chance, dass das Kind im immer näher kommt (aus dem Mutterbauch auf seinen Schoß, an seine Seite), bis es spätestens in der Pubertät seinen eigenen Weg zu suchen beginnt.
Wenn Erwachsene diese beiden Formen der Liebe nun mit der Liebe zu einem Partner verwechseln, dann tut das niemandem gut. Das Kind braucht in der Kindheit einen Halt und ein Gegenüber, auf das es sich verlassen kann. Eine Partnerschaft unter Erwachsenen dagegen ist eine freiwillige Beziehung. Das Kind jedoch ist vom Erwachsenen abhängig. Also das passt nicht zusammen.
Wenn Erwachsene Angst haben, die Liebe des Kindes zu verlieren, dann spiegeln sich darin zunächst mal erhebliche Selbstzweifel und Unsicherheit. Wenn sie dann - um die Liebe des Kindes nicht zu verlieren - dem Kind nicht zu widersprechen wagen, ihm keine Grenzen setzen, dann begeben sie sich in eine Abhängigkeit vom Kind, die das Kind daran hindert reifer zu werden. Warum gehen den Sportler an die Grenzen ihrer Leistungskraft? Weil jeder Mensch seine Grenzen kennen lernen will. Das gilt für den Körper, aber auch für den Geist (Wissenschaftler) und im Zwischenmenschlichen (darf ich, kann ich, komme ich mit dieser Angeberei, Dreistigkeit, Frechheit, Ausrede, Lüge durch?).
Da niemand alles kann und es keine grenzenlose Freiheit gibt, sondern meine Freiheit dort endet, wo die des Anderen beginnt, gehört das Erproben oder Aushandeln von Grenzen zu den wichtigen Erfahrungen, die ein Mensch macht, machen muss. Das ist natürlich mit Enttäuschungen, aber auch mit Achtung vor dem Stärkeren, Weiseren, Klügeren, Reiferen verbunden. Man findet seinen Platz in der Gesellschaft, indem man ausprobiert, wozu man fähig ist und wer mehr kann, als man selbst. Eltern, die um der Liebe ihrer Kinder Willen diesen keine Grenzen setzen, verweigern diesen dieses Erlebnis und werden in den Augen der Kinder sehr rasch jegliche Achtung verlieren, eben weil die Kinder merken, dass man mit ihnen alles machen kann. Eltern, die ihre Kinder lieben, werden ihnen ermöglichen die Erfahrung von Grenzen und deren Ausweitung zu machen.
Das alte Bibelwort "Wer sein Kind liebt, spart die Rute nicht" wird da häufig missverstanden. Der entscheidende Punkt ist nicht die körperliche Züchtigung, sondern, dass das Kind seine Grenzen erfahren darf und sie mit zunehmender Reife auch verändern lernt. Vermutlich war den Menschen vor über 2000 Jahren auch klar, dass eine körperliche Zurechtweisung, wenn eine Grenze überschritten worden war, den Lerneffekt verstärken sollte. Heute weiß man, dass negative Erfahrungen mit Hilfe des Mandelkerns im Gehirn rasch und dauerhaft gespeichert werden. Besser allerdings - und für das Lernen genau so wirksam - wäre die Freude, die man empfindet, wenn einem etwas gelungen ist (das läuft über den Nucleus accumbens im Hirn).
Natürlich ist es wünschenswert, dass Kinder nicht geschlagen werden, aber vielleicht wäre es manchmal weniger schlimm, als die seelischen Grausamkeiten, die an seine Stelle treten (geh auf Dein Zimmer, ich will Dich nicht mehr sehn, wenn Du das tust, liebe ich dich nicht mehr).
Selbstverständlich ist es für das Kind wichtig zu erfahren, dass alles, was man tut Folgen hat. Aber die müssen seinem Alter und Reifegrad angepasst sein. Im Idealfall würden Eltern vor allem Loben, und Missgeschicke - wie etwas das Finger Verbrennen an einem Streichholz, einer  Kerze - die negativen Erfahrungen sein, die anscheinend ebenfalls sein müssen, bei denen dann die Eltern helfend, heilend und tröstend gefragt sind. Auch das gelingt eher, wenn das Kind vertrauensvoll zum Erwachsenen aufschauen kann und sich dessen Liebe sicher ist, als bei einem Partner, der sich bei einer Dummheit entsetzt abwenden könnte.
Symbiose?
Die Symbiose (Syn altgriechisch "mit" und Bios "Leben") klingt zunächst nach Lebensgemeinschaft und harmlos. Michael Winterhoff meint damit aber die psychische Verschmelzung von Eltern mit ihren Kindern. Da die Kinder keine Erwachsenen sein können, bedeutet das, die Erwachsenen werden in gewissem Sinn zu unreifen Kindern. Natürlich verhalten sie sich gegenüber anderen Erwachsenen weitgehend wie Erwachsene, aber im Umgang mit dem Kind führt das zu fragwürdigen Ergebnissen und viel Kummer. Diese Eltern gehen davon aus, dass das Glück des Kindes auch ihr Glück sei.
Wenn man aber das Kind als Teil von sich selbst betrachtet, kommt es zwangsläufig zum Konflikt. Der eigene Arm bewegt sich natürlich so, wie man es möchte. Ein Kind dagegen hat einen eigenen Willen (den es in der Trotzphase erst lernt richtig zu gebrauchen, sich aber ebenso oft darin verheddert und daran fast verzweifelt). Dieser eigene Wille wird in vielen Fällen nicht dasselbe wollen, wie die Eltern. Das ist auch gut so, weil das Kind ja lernen muss die eigenen Interessen mit denen seiner Umwelt in ein erträgliches Verhältnis zu bringen. Zunächst durch Bitten, später auch durch Fordern.
Eltern, die in Symbiose mit ihren Kindern leben müssen scheitern, denn entweder wollen sie etwas Anderes als das Kind und dann kann das ja wohl keine Symbiose, und auch kein ungetrübtes Glück mehr sein, oder aber, sie wollen, was die Kinder wollen und werden sozusagen zu unreifen Hampelmännern und -frauen, bei denen das Kind die Strippe zieht. Dann aber werden die eigenen Bedürfnisse untergebuttert.
Das Taxi Mama chauffiert die Kinder in der Gegend herum und kann sehen, wie Haushalt und Beruf noch irgend wie nebenher erledigt werden.
Das Kind genießt vielleicht zunächst das „Verwöhnt-werden“, aber es fehlen ihm natürlich wieder die Grenzerfahrungen, die Strukturen und der Halt, den Eltern geben sollten.
Das größte Problem bei der Symbiose besteht darin, dass die Eltern den Kindern kein Gegenüber mehr bieten. Genau das brauchen Kinder aber, wenn sie ungefähr um drei Jahre herum lernen sollen, dass es nicht nur Gegenstände, sondern auch andere Menschen gibt und, dass man sich in diese und ihre Gefühle hinein versetzen kann. Dieses Mitempfinden, dieses Mitgefühl (Empathie) ist für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit unabdingbar.
Wer nicht lernt die Gefühle anderer zu verstehen, ihre Mimik oder Gesten zu deuten, der wird nicht fähig eine Beziehung zu anderen Menschen zu gestalten, weil er oder sie gar nicht versteht, ob und was die Anderen von ihm wollen.
Kinder, denen diese Fähigkeit fehlt, sind sozusagen "Gefühlsmäßige oder Soziale Analphabeten". Sie werden deshalb auch beim Lernen größte Schwierigkeiten haben, weil sie zwar vielleicht die Fakten speichern können, aber deren Bedeutung im gesellschaftlichen Zusammenhang nicht verstehen. Ihnen ist nicht klar, ob der Blick eines Menschen bewundernd, oder verwundert, wohlwollend, oder ablehnend ist, sondern sie fragen bestenfalls "Was guckst du Alder?"
Klare Verhältnisse erhalten die Freundschaft
Dieses chinesische Sprichwort sagt sehr viel über Beziehungen und den Wert von Strukturen aus. In Deutschland würde man vielleicht sagen: "Bei einem Freund da weiß ich woran ich bin." Wir wünschen uns Klarheit, Zuverlässigkeit, Sicherheit und Ordnung. Der Grund dafür ist, dass Strukturen und Ordnungen uns Orientierung geben. Wenn wir Blätter sehen, nehmen wir zunächst mal an: "Aha, eine Pflanze". An der Art der Blätter erkennen wir die Pflanze, oder spätestens, wenn wir sehen, wie die Blätter am Stängel und am Ast sitzen (gegenüber, abwechselnd).
Dahinter steckt, dass wir Dinge, die wir oft wahrnehmen auch gründlicher im Hirn speichern, als einmalige Ereignisse (mit Ausnahme der erwähnten gefährlichen, oder hocherfreulichen). Vereinfacht kann man sich vorstellen, dass die Zellen unserer Gehirns eine Art Modell der Welt in Gedankenform erstellen, wobei das, was wir oft erleben, oder oft tun, als besonders wichtig vermerkt wird. Insofern stimmt der lateinische Spruch "Wiederholung (Üben) ist die Mutter des Lernens". Die erwähnten Sofortlernvorgänge durch gefährliche oder begeisternde Erfahrungen wären dann der Vater des Lernens. Alle drei sind wichtig.
Selbstverständlich wünscht sich jeder, dass er eine Sache nur einmal verstanden haben müsste, um sie dann zu können. Kinder sagen "ich kann's", wenn ihnen eine Sache das erste Mal geglückt ist. Dass in den meisten Fällen zum Können auch Wiederholen, also Üben gehört, weiß eigentlich jeder Erwachsene, aber die Freude ist natürlich groß, wenn etwas auf Anhieb glückt.
Kinder üben normaler Weise unermüdlich, das fängt beim Lallenden Säugling an und ist besonders beeindruckend, wenn Kleinkinder Krabbeln oder Gehen lernen. Immer wieder fallen sie hin, immer wieder stehen sie auf. Das zeigt: Kinder haben kein grundsätzliches Problem mit Misserfolgen. Ähnlich unermüdlich stellen manche von ihnen andauernd Fragen, auf diese sie (eine altersgemäße) Antwort erhoffen.
Vermutlich beruht ein Teil der Ablehnung von Winterhoffs Thesen darauf, dass vielen Menschen "Ordnung", oder "klare Strukturen" unheimlich sind. Egal, ob sie sich an den Nationalsozialismus erinnern bei dem alles "in Ordnung gehen" (also marschieren)sollte, oder ob ihnen bewusst ist, wie wenig sie von den Ordnungen dieser Welt wissen und, wie wenig Ordnung sie in ihrem Leben halten können.
Sie erleben Ordnung als bürokratisch, als lebensfeindlich, als einengend und bedrückend. Für sie besteht Freiheit darin sich nicht einordnen zu müssen, keine Pflichten zu haben. Das ist natürlich eine Illusion, denn sie nutzen ganz selbstverständlich die Gesetze der Physik, Chemie, Biologie (ohne sie unbedingt zu kennen) bei fast allen alltäglichen Verrichtungen. Und dabei empfinden sie diese Einbindung in Ordnungen überhaupt nicht störend.
Ordnung - nein Danke!
Wenn man aber so allergisch auf Ordnung und Strukturen reagiert, wie viele Zeitgenossen, dann muss das einen Grund haben. Einerseits könnte es schlichte Unreife sein, die Zusammenhänge leugnet, weil sie sie nicht wahrhaben will. Andererseits könnte es sein, dass Manche unbewusst spüren, wie groß der Unterschied zwischen der von Werbung und Medien suggerierten Freiheit auf der einen Seite und den vielen Pflichten des Alltags auf der anderen Seite ist und wollen nun auch an der viel gepriesenen und versprochenen Freiheit teilhaben. Sicherlich gibt es dann auch noch Fälle, in denen das Aufbegehren gegen Ordnung in der eigenen Biografie begründet ist.
Für die Entwicklung von Kindern ist aber wichtig, dass Ordnung vermittelt wird, damit sich die Kinder zurecht finden. Das meint nun aber nicht in erster Linie, dass man sie zum Aufräumen des Kinderzimmers zwingen sollte, sondern dass man ihnen helfen sollte die verschiedenen Strukturen und Ordnungen dieser Welt kennen zu lernen. Das beginnt beim Säugling damit, dass er einen Schlaf-Wach-Rhythmus finden muss, der zu ihm passt, dass er merkt wer seine Eltern sind, wer seine Geschwister und andere Familienmitglieder. Was ist ein Mann und was eine Frau? Später muss das Kind lernen, wie Sprache aufgebaut ist, wie man sich anzieht, was in der Wohnung oder dem Garten gefährlich ist, wie man sich im Verkehr verhält und so weiter. Dabei zeigt das Sprechenlernen sehr schön, dass schon kleine Kinder Erstaunliches leisten und dass man viele Ordnungen (Grammatik, Syntax) unbewusst aufnimmt.  
Das Kind lernt zunächst die größeren, oder wichtigeren Zusammenhänge, etwa, wo es Essen, Ruhe und Liebe findet. Ob es dabei Unwichtiges einfach übersieht, oder bewusst ausblendet, ist meines Wissens noch nicht klar. Aber die meisten Eltern werden beobachten, dass Kinder in jungen Jahren Schmutz oder Unordnung gar nicht erkennen und sie deshalb auch nicht als störend empfinden. Selbstverständlich sollte man trotzdem zu einer gewissen Sauberkeit, Hygiene und Ordnung erziehen, etwa in dem man nach fragt: "Wo hast Du denn deine Puppe, deine Schuhe oder irgend etwas Anderes hin getan?" Das übt das Bewusstsein für das eigene Tun. Wo war ich denn, was habe ich getan? Es macht auch auf die Zeitabläufe aufmerksam: "Vorhin hast du sie noch gehabt." Aber es ist bei kleinen Kindern eine Vergeudung von Atem und Worten, wenn man von ihnen etwas verlangt, oder sie wegen etwas schimpft, was sie noch nicht können.
Winterhoff weist darauf hin, dass man die Freiräume des Kindes an seine Entwicklung anpassen sollte und an die Arbeitsweise des Gehirns. Und da kann es dann sein, dass es für alle Beteiligten wesentlich einfacher ist, wenn man sagt: "Tu das bitte mir zuliebe!" als den Grund dafür zehn mal zu erklären. Das Erste ist eine Frage der Beziehung, das Zweite eine des Intellekts. Beide haben ihre Berechtigung, aber jedes zu seiner Zeit. Man kann aber durchaus erklären, warum man etwas erbittet. Das zeigt dem Kind, dass man es ernst nimmt und auch von Seiten des Erwachsenen an einer guten Beziehung interessiert ist.
Wenn Winterhoff dann Beispiele nennt, wo er mehr Struktur, mehr Ordnung für besser hält, etwa in Kindergärten und Schulen, dann wird das so verstanden, als ob er, der Facharzt, sich nun zum Pädagogiklehrer befähigt fühlt. Dabei weist er in Wirklichkeit nur darauf hin, dass Kinder je nach Reifegrad unterschiedliche Bedürfnisse haben, die Elternhaus und Bildungseinrichtungen berücksichtigen sollten, damit es den Kindern gut geht. So betrachtet kann man dann schon verstehen, dass Hefte und Bücher in einem bestimmten Alter Vorteile gegenüber Zetteln haben, oder dass Gruppenarbeit, oder selbständiges Arbeiten eben erst wirklich Früchte trägt, wenn die Heranwachsenden die nötige Reife haben.
Dann wird auch verständlich, dass er für mehr direkte Beziehung zwischen Kindern und Erziehern oder Lehrern plädiert, eben damit die Kinder in diesen Beziehungen reifen. So betrachtet sind beobachtende und protokollierende Erzieher oder Lehrer, die nur als Coach, aber nicht mehr als freundlicher, liebevoller Mitmensch auftreten wollen, durchaus fragwürdig.
Es geht aber in erster Linie nicht um Ordnung, Strukturen, Respekt, Umgangsformen, Pädagogik oder Therapie, sondern darum, dass Eltern und Alle, die mit Kinder zu tun haben, mit ihnen so umgehen, wie es deren jeweiliges Alter erfordert. Nur wenn es den Kindern ermöglicht wird Beziehungen (altersgemäß) zu erleben, können sie daran ihre eigenen Beziehungsfähigkeit entwickeln. Vereinfacht dargestellt reicht das von der absoluten Verlässlichkeit der Stillenden über das bewusste Auftreten als älteres und reiferes Gegenüber bis hin zum Begleiter des Heranwachsenden, wobei man einem Geländer immer ähnlicher wird. Es ist da, gibt notfalls Halt, grenzt vielleicht etwas ein, muss aber nicht benutzt, oder fest gehalten werden.
Wenn man die soziale und gefühlsmäßige Seite der Persönlichkeit als "Seele" betrachtet, dann scheint in den letzten Jahrzehnten der Körper (gesund, satt und sauber) und der Geist (jedes Kind ein kleiner Einstein, immer mehr Abiturienten) gefördert worden zu sein; aber die Seele kam zu kurz. Genau wie bei einem dreibeinigen Hocker führt diese Einseitigkeit zu einer Schieflage, die Eltern und Kindern, ja der ganzen Gesellschaft Kummer bereitet.
Keine Zeit für Gefühle?
Gefühle brauchen Zeit. Gefühle sind selten reinrassig, sondern meist kompliziert, schwer zu fassen. Gefühle zu vermitteln ist ziemlich schwierig, wenn man nicht gerade Musiker, Dichter oder ein anderer Künstler ist. Fast jeder Mensch erlebt jede Situation ein wenig anders. Es ist also eine großartige Leistung, wenn ungefähr Dreijährige Gefühle für andere Menschen entwickeln, Kinder wenige Jahre später soziale Regeln befolgen können und in der Pubertät fähig werden sich selbst in Frage zu stellen. All das braucht seine Zeit und Mitmenschen, die das Kind dabei unterstützen.
Hier sieht Winterhoff eine Ursache für das unbeabsichtigte Versagen mancher Eltern: Wer auf Grund der gestiegenen Anforderungen im Alltag nur noch durch den Tag hetzt, wer ständig an der Grenze seiner Möglichkeiten ist, wer nie Zeit für sich selbst und zum Nachdenken hat, der kommt kaum zu sich selbst. Wenn man nicht bei sich selbst ist, in sich ruht, dann ist es kaum  möglich einen Beziehung zu einem anderen Menschen aufzubauen und zu gestalten. Man kommt nicht mehr aus seiner Rolle heraus um nur noch "ich" zu sein. Und jedes "Wir" ist eine gelungene Verbindung zweier oder mehrerer "Ichs" (gemeint ist eine zwischenmenschliche tragfähige Beziehung und nicht nur eine Arbeitsgemeinschaft oder Interessengruppe).
Auch ständige Ablenkung und Zerstreuung durch Medien, Veranstaltungen oder eigene Aktivitäten verhindert das "Zu-sich-kommen". Manchmal sind sie eine Flucht vor drückenden Sorgen, manchmal der Versuch um das Nachdenken und Nachsinnen herum zu kommen, aber für eine wirkliche Begegnung muss man vorher bei sich gewesen sein, oder zumindest während dessen zu sich selbst kommen. Eltern, die aus was für Gründen auch immer, so belastet sind, dass sie keine Zeit, keine Ruhe oder keine Kraft haben ihren Kindern als echte Persönlichkeit zu begegnen, erschweren zwangsläufig den Kindern ihre Beziehungsfähigkeit zu entwickeln.
Hinzu kommt, dass in der Gesellschaft die psychischen Erkrankungen zunehmen, die durch Überlastung hervor gerufen werden, so dass möglicherweise auch immer mehr Eltern seelisch angeschlagen sind, oder selbst an einer Beziehungsstörung (Abhängigkeit vom Partner, Idealisierung des Partners, Verschmelzung mit dem Partner) leiden, die ihnen gar nicht bewusst sein muss. Auch das kann die kindliche Reifung beeinträchtigen.
Auch, wenn dabei noch weitere Faktoren eine Rolle spielen dürften, kann man Winterhoff wohl zustimmen, wenn er meint, dass für alle, die mit Kindern zu tun haben, vor allem aber für Eltern mehr Muße, mehr Ruhe, mehr Zeit und weniger Hektik und Stress gut täten.
Eine Gesellschaft, die ihre einzelnen Mitglieder überfordert, braucht sich nicht wundern, wenn unter dieser Überforderung auch die Brutpflege und Aufzucht der nächsten Generation leidet. Da die Politik zudem Familien benachteiligt, wundern auch die geringen Geburtenraten nicht. Der Caritasdirektor stellte schon vor einigen Jahren fest:
"Das sicherste Mittel um (in Deutschland) arm zu werden, ist Kinder in die Welt zu setzen!"
Wenn die Familie und damit unsere Gesellschaft eine Zukunft haben soll, dann müssen wir uns ändern. Zukunftsforscher Horst Opaschowski sieht in den Umfragen Hinweise darauf, dass das bereits beginnt:
  1.  Beziehungen über mehrere Generationen werden wichtiger.
  2.  Nachbarschaft, sowie Wohn- und Hausgemeinschaften werden wichtiger.
  3.  Der Gedanke an Wahlfamilie und Wahlverwandtschaften lebt wieder auf.
  4.  Generationen übergreifende Wohnformen werden gewünscht.
Da der materielle Wohlstand weiter abnehmen wird (was die Menschen, die in einer Wachstumsgesellschaft geboren wurden belastet), werden Familien und Nachbarschaften enger zusammen rücken und das freiwillige soziale Engagement zunehmen. Dadurch wird es möglich auch mit weniger glücklich zu sein, vielleicht sogar glücklicher als heute, weil man Anerkennung von Mensch zu Mensch erfährt, nicht nur in Form eines Gehaltsschecks.
 
* Foto: Privat wohl vor 1930.
 
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Donnerstag, 31. März 2011