Hat die Familie Zukunft?
1. Gesellschaft und Familie
 
 
Was zählt unterm Strich - ich oder wir?
 
In den Horden unserer steinzeitlichen Vorfahren waren vermutlich die Meisten miteinander verwandt. Später gab es Großfamilien, die irgend wann zur Kleinfamilie schrumpften, die sich schließlich in Singles und Alleinerziehende auflöste. Noch kleiner geht es nicht. Verblüffend ist, dass die Sehnsucht nach einer Familie und Kindern laut Umfragen in Deutschland mit stets um 90 Prozent gleich blieb. Das passt irgend wie nicht zusammen.
Der Hamburger Zukunftsforscher Prof. Horst Opaschowski sieht im letzten Jahrzehnt einen starken Wertewandel. Die Zeit der Ellenbogengesellschaft, der Egoisten und Narzissten gehe langsam aber sicher zu Ende. Grund sei, dass es in einer Krise keinen Platz für Egoisten gäbe.
Dieser Wertewandel habe mit dem Einsturz des World-Trade-Centers in New York am 11. September begonnen, als den Menschen durch den internationalen Terrorismus bewusst wurde, dass es keine Sicherheit mehr gibt. Sicherheit stellen die Deutschen heute sogar über die Freiheit (80% : 64%)! Die folgende Wirtschafts- und Finanzkrise verstärkte das Nachdenken, die Unsicherheit und das Umdenken.
Dazu mag auch beigetragen haben, dass die Politik in diesen Krisen keine gute Figur machte. 87% glauben, dass Politiker "mehr am Machterhalt, als am Wohl der Bürger interessiert" sind und wollen deshalb wieder mehr selbst entscheiden durch "viel mehr Volksabstimmungen" (78%), oder indem man "sich selbst helfe und nicht alle Probleme dem Staat überlasse" (62%).
Das erinnert an den Konflikt um Stuttgart 21 (der Verlegung des Bahnhofs in den Untergrund), bei dem die Befürworter von einem Bahnhof reden und die Gegner von Bürgerbeteiligung und mehr Demokratie. Hier zeigt sich der gesellschaftliche Konflikt, der sich in diesem Fall an einem Bauprojekt entzündete, dass die Politik den Bürgern - ohne sie zu fragen - vorsetzte. Und wenn von den Gegnern häufig bei Demonstrationen "Lügenpack" skandiert wird, dann ist auch das Ausdruck des Wertewandels, denn für 83 % ist Ehrlichkeit das wichtigste Erziehungsziel geworden. In dem Maß, wie das Vertrauen in die Politik schwindet, stieg das zu den Mitmenschen und gemeinsamen Aktionen an (von 36 auf 56 %).
Was hat der Wertewandel mit Familie zu tun?
Eine Familie, das sind zunächst mal ein Mann und eine Frau, die eine Partnerschaft eingehen. Aus zwei "ICH" wird ein "WIR". Das war früher arrangiert, heute haben die Beiden eher die Qual der Wahl, was aber die Beziehungen nicht stabiler gemacht hat.
Eine gute Voraussetzung für das Gelingen ist, wenn beide reife, starke Persönlichkeiten sind, die auch alleine leben könnten, also den Anderen nicht brauchen, sondern sich freiwillig zum "WIR" entschließen. Warum beide in etwa gleich stark sein sollten, kann man leicht verstehen, wenn man sich überlegt welche Spiele am spannendsten sind. Nur wenn die Gegner bei einem Spiel in etwa gleich stark sind, wird es spannend. Mal gewinnt der Eine, mal der Andere und, wenn die Beiden klug sind, werden sie an ihrem Spiel viel Freude haben.
Eine Partnerschaft - wie man sie heute erträumt - setzt Gleichberechtigung und auch die Fähigkeit diese zu fordern, zu erhalten und zu verteidigen voraus. Natürlich ist so ein Duo, das gemeinsam an einem Strang zieht, auch stark und kann manche Herausforderung des Lebens gemeinsam bewältigen, was die Beziehung in der Regel noch stärker werden lässt. Trotzdem erfordert jede Beziehung den täglich neuen Entschluss zusammen zu halten, zusammen zu stehen und die Verschiedenheit und die unterschiedliche Entwicklung nicht als Last, sondern als Reichtum zu erleben.
Da zeigen die Umfragen, dass dieses Ziel von immer mehr Menschen als das Wichtigste Ziel in ihrem Leben angesehen wird (2003: 56% > 2010: 74%). Junge Menschen schätzen also nicht nur die Familie als sehr wichtig ein, sondern räumen ihrer eigenen Familiengründung die höchste Bedeutung in ihrem Leben ein. Eigentlich ganz natürlich.
Dieser Wertewandel könnte die hohen Scheidungszahlen senken und die Geburtenrate ansteigen lassen. Aber ganz so einfach wird es nicht werden, denn gute Absichten allein genügen nicht. Man muss auch wissen, wie man das macht. Und da befinden wir uns in einem Teufelskreis: Je weniger funktionierende Familien es gibt, desto weniger Kinder können sich bei ihren Eltern abschauen, wie man es richtig anpackt.
Familie als Schule des Lebens
Man lernt in einer Familie nicht nur, wie man später selbst mal eine Familie gestalten könnte, sondern viel mehr: Vertrauen, das Aushalten von Unterschieden, sich arrangieren, auf einander Rücksicht nehmen, einander unterstützen, einander Rückhalt und Geborgenheit geben, Andersartigkeit als Bereicherung und Chance zu schätzen, miteinander Schwierigkeiten zu meistern und Feste zu feiern. Auch, wie man mit Menschen umgeht, ohne sie zu kränken, denen man sich weniger nah fühlt, wie es sie fast in jeder Verwandtschaft gibt, und, wie man Nähe und Distanz nutzt und gestaltet, all das kann man in der Familie lernen.
Ein Kind reift in der Familie in drei Bereichen: Körper, Seele und Geist. Dabei meint Seele hier vor allem die Fähigkeit zu Fühlen, Mitzuempfinden und Beziehungen zu knüpfen.
Für das Neugeborene ist zunächst die wichtigste Erfahrung, dass es sofort die Brust bekommt, wenn es Hunger hat und dabei liebevoll behandelt und angesprochen wird. Daraus entsteht das Gefühl: Du bist willkommen, wirst geliebt und versorgt. So wächst das Urvertrauen, das einem Menschen Zuversicht für sein ganzes Leben gibt. Wie wichtig das für den Säugling ist, kann man daran erkennen, dass er bereits in den ersten Tagen des Lebens zu lächeln versucht, sich also um das Wohlwollen der Eltern bemüht. Für ihn ist das Überlebens-notwendig.
Irgend wann (mit etwa 8 Monaten) spürt die Mutter, dass es nicht mehr nötig ist auf jeden Schrei nach Brust oder Brei sofort zu reagieren, sondern kann das Kleine für kurze Zeit mit ein paar Worten vertrösten. Auch das ist wichtig, damit das Kind lernt zu warten, woraus dann später die Fähigkeit wird mit Enttäuschungen umzugehen oder auf Erfolge zu warten und geduldig an ihnen zu arbeiten (Frustrationstoleranz).
Bleiben wir bei der Seele, dann sind Krabbeln und Brabbeln zwar auch sehr wichtig, weil die Sprache ein ganz wichtiges Mittel zur Beziehungspflege ist, aber Ende des Zweiten oder im dritten Lebensjahr passiert etwas ganz Entscheidendes: Das Kind entdeckt, dass es andere Menschen gibt und, dass es deren Gefühle erkennen kann. Vorher waren alle anderen Menschen und Dinge nur Gegenstände, mit denen das Kind machen konnte, was es wollte, oder was es eben zustande brachte. Deshalb sind kleine Kinder aus Sicht der Erwachsenen oft ungeduldige krasse Egoisten. In Wirklichkeit können sie einfach noch nicht unterscheiden, was ihr Tun bedeutet.
Dieses Mitfühlen-können (Empathie) ist für Beziehungen außerordentlich wichtig, weil nur so kann man bemerken, welche Reaktionen das eigene Handeln beim Anderen hervorruft. Ab diesem Alter kann der Erwachsene auf Fehlverhalten des Kindes Einfluss nehmen. Wenn man einem knatschenden Kind deutlich macht, dass man sich dadurch gestört fühlt, dann besteht ab diesem Alter die Chance, dass es das Verhalten ändert. Und zwar für den anderen Menschen, also um eine Beziehung zu pflegen.
Das Kind tut etwas den Eltern zuliebe
Wer sich erinnert, wie sehr eine Erzieherin oder ein Lehrer zu Leistungen anspornen konnte, eben weil man ihn mochte, versteht, dass dieses "jemanden etwas zuliebe Tun" Leistungen ermöglicht, die man für sich selbst (noch) nicht erbringen würde. Es ist also für das heranwachsende kleine Kind ganz wichtig, dass die Eltern ihm diese Möglichkeit zu wachsen und zu reifen bieten. Selbstverständlich liebevoll und dem Alter angemessen.
Ab etwa fünf Jahren ist ein Kind zu einer tiefen Beziehung fähig. Es kann aus Konflikten schon etwas lernen und sein Verhalten zumindest zeitweise ändern. Den Eltern zuliebe deckt es den Tisch besonders schön, geht es in den Kindergarten oder die Schule. Aber zugleich ist es lernbegierig. Zudem kann es sich Regeln schon recht rasch merken und befolgen (sonst wäre kein Unterricht möglich). Jetzt ist es hohe Zeit gute Gewohnheiten zu fördern und schlechtere zurück zu drängen, oder abzugewöhnen.
Diese Fähigkeiten des Kindes sind auch ein Hinweis darauf, dass es beziehungsfähig werden dürfte, denn Lernen findet in jungen Jahren meist zwischen zwei Menschen statt, von denen Einer mehr weiß, als der Andere. Je nach dem, wie gut die Beziehung dieser Beiden ist, umso besser oder schlechter wird der Lernerfolg sein. Manchmal führt ein Lehrerwechsel sogar zu einer besseren oder schlechteren Note im Zeugnis.
Deshalb ist es für das Kind auch wichtig, dass es im Haushalt oder im Garten mithelfen darf. Dabei begreift es viele Dinge und erlebt, dass es dies oder das bereits gelernt hat und sogar beherrscht und Mutter oder Vater eine echte Hilfe sein kann (wieder natürlich im altersgemäßen Rahmen). Wichtig ist schon früh bestimmte Dinge immer wieder zu tun, um sie so einzuüben.
Hintergrund ist, dass sowohl Muskeln, als auch Nervenverbindungen durch Beanspruchung kräftiger werden. Und der Erwachsene weiß selbst, dass er Sachen, die ihm zur Gewohnheit wurden, rascher und müheloser erledigt, als Handlungen, über die er erst nachdenken muss.
Dass die Kinder das teilweise selbst wünschen, kann man auch daran erkennen, dass in einem bestimmten Alter Rituale wichtig werden und man die Lieblingsmärchen oder Gute-Nacht-Geschichten immer wieder vorlesen soll.
Wenn das Kind mithelfen darf, fühlt es sich größer ("Ich kann schon...!") und von den Eltern ernst genommen. Das tut seinem Selbstbewusstsein gut, solange die Eltern es nicht deswegen zum Wunderkind hochjubeln, oder als Dienstbote missbrauchen. Lob ist wichtig, aber in einem vernünftigen Maß. Umgekehrt ist es manchmal klüger bei einem Misserfolg zu trösten, statt zu schimpfen, und zu sagen: "Na das hat jetzt noch nicht geklappt, aber irgend wann, wirst Du das auch können." Denn zu einem gewissen Grad hat man als Erwachsener dem Kind den Misserfolg eingebrockt, indem man ihm zu viel zugetraut hat, es also überforderte. Das wird sich nie vermeiden lassen, aber solange Erfolge die Misserfolge überwiegen, und man das Kind ermutigt es später, wenn es größer ist, wieder zu versuchen, sollte daraus kein Schaden für die Seele oder Persönlichkeit entstehen.
Mit der Schulzeit treten neben die Eltern andere Vorbilder. In der Pubertät folgt dann die schwierige Aufgabe, sich selbst kennen zu lernen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Ungefähr mit 14 erkennt man die Fehler Anderer, mit 15 die der Eltern und mit 16 die eigenen durch selbständiges Nachdenken. Kein Wunder, dass man in der Pubertät manchmal nicht recht weiß, was man tun soll und wohin die Reise der eigenen Entwicklung geht.
Auch dann können Eltern den Heranwachsenden unterstützen, indem sie ihn verständnisvoll begleiten und den Freiraum, den sie ihm geben, immer weiter öffnen, aber nicht so rasch, dass dem jungen Menschen jede Möglichkeit genommen wird ihn sich zu erringen. Dieses Erringen von Freiheiten gehört mit zum Ablösen von den Eltern und zum Reifen der eigenen Persönlichkeit. Dass das für alle Beteiligten nicht immer einfach ist, dürfte bei so einem wichtigen Entwicklungsschritt nicht wundern.
Auch der Heranwachsende, der oft zur selben Zeit seine Beziehungsfähigkeit erprobt, die aber meist nur so weit reicht, wie seine Persönlichkeit sich schon entwickelt hat, erlebt in dieser Zeit ein Wechselbad der Gefühle. Oft findet er in einer Gruppe mehr Geborgenheit als in ersten Versuchen von Partnerschaft. Partnerschaft kann da schon ansatzweise gelingen, wenn sie sich als Gemeinschaft Lernender begreift mit dem festen Willen einander gegenseitig zu unterstützen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die weitere Entwicklung der beiden jungen Menschen diese Partnerschaft irgend wann sich auseinander entwickeln lässt.
Familienwirklichkeit
All das sollte man "im Schoße der Familie" lernen dürfen, lernen können. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Sehr viele Kinder müssen früher oder später die Trennung ihrer Eltern erleiden und leben dann entweder bei nur einem Elternteil, oder in einer neuen Beziehung mit vielleicht  weiteren fremden oder sogar neuen Kindern.
Die Trennung hat in jedem Fall zwei schlechte Seiten für die Kinder: Erstens den Streit zuvor und zweitens, dass ihnen in Zukunft im Alltag ein Elternteil als "Anschauungsmaterial" für eine Geschlechterrolle fehlt. Vernünftige Eltern können das durch weiteren guten Kontakt zu beiden Elternteilen etwas lindern. Aber das gelingt eben nicht immer.
Kommt es zu einer neuen Beziehung, dann kann das glücken, muss aber nicht. Es gibt Kinder, die ganz froh über ihre vier Omas und Opas und die neuen Stiefgeschwister sind, aber es gibt eben auch Kinder, die darunter leiden.
Obendrein ist die klare Rollenzuweisung - die "Haus"-Frau kümmert sich ums Haus, der Mann um den Gelderwerb durch seinen Beruf - längst durch die Doppelrolle als Mutter, Hausfrau und Berufstätige aufgebrochen. Die Mutter bekommt aber, obwohl sie offensichtlich mehr leistet, als der Mann, weniger Geld und Anerkennung. Der Vater bekommt zwar mehr Geld, ist aber oft nicht da, wenn man ihn (aus Sicht des Kindes) gerne bei sich hätte. So geben beide Eltern keine sehr attraktiven Vorbilder ab. Erst recht nicht, wenn sie zwei oder mehr Berufe ausüben müssen und das Geld dennoch knapp ist, oder einer die Stelle verliert. Das Beziehungen unter solchen Belastungen eher in die Brüche gehen, ist verständlich.
Die Frage für die Gesellschaft ist nun, ob und wie Kinder unter solchen erschwerten Bedingungen selbst lernen beziehungsfähig zu werden, oder ob sie mangels Vorbild und Reife dazu vielleicht gar nicht mehr in der Lage sind und selbst genau so scheitern werden, wie die Eltern. Das scheint im Augenblick ein offenes Rennen zu sein. Und das wird nicht einfacher dadurch, dass unsere Gesellschaft Angst hat. Sicherheit ist für 80% der Deutschen wichtiger als Freiheit (64%).
Das wird verständlich, wenn man bedenkt, dass schon vor vielen Jahren die Parole ausgegeben wurde "Die Renten sind sicher!", was logischer Weise misstrauisch machte. Genau so ließen eine wachsende Arbeitslosigkeit, Privatisierung von Staatsbetrieben mit jährlich zehntausenden  Entlassungen, Firmenübernahmen und spektakuläre Pleiten die Angst um den eigenen Arbeitsplatz, das Eigenheim oder die Alterssicherung wachsen. Spätestens mit der Diskussion von demographischem Wandel (älter werden der Gesellschaft) oder dem Klimawandel, wurde bewusst, dass Vieles von dem, was man für fest und sicher hielt, gar nicht so unveränderbar ist. Armut, Angst um den Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit und zerbrechende Familien wecken Ängste und können krank machen.
Eine Gesellschaft, die weiß, dass es ihr in Zukunft nicht mehr so gut gehen wird, wie heute, der Altersarmut droht, lebt unter dieser ständigen Bedrohung weniger gut, als eine, die glaubt, es ginge immer weiter aufwärts, wie nach dem Kriege. Kommt dann noch wachsender Leistungsdruck dazu (um diese unerwünschte Entwicklung aufzuhalten), dann sind Erkrankungen wie Depressionen oder tiefe Erschöpfung (Burn Out = ausgebrannt sein) die Folge, die in den letzten Jahren stark zunehmen.
 
Foto: *Privat, Mitte der 1920er Jahre.
 
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Donnerstag, 31. März 2011