Warum ändert sich so wenig?
 
Viele schimpfen, aber wenige tun etwas
 
Fast jeder Bürger könnte Beispiele dafür nennen, dass in seinem Lande viel zu viel nicht gut läuft. Trotzdem sieht fast niemand darin ein Krisenzeichen, das darauf hin weist, dass die Gesellschaft, oder der Staat als Ganzes in Gefahr sein könnte. Das hat vor allem zwei Gründe:
  1. 1.    Sehr viele sind derart eingespannt, dass sie für solche Überlegungen keine Zeit oder Kraft haben, weil sie nur selten zur Besinnung kommen.
  2. 2.    Gibt es in der Kommunikationswissenschaft eine Regel, dass Menschen solche Informationen abblocken, die ihnen - falls sie sie zur Kenntnis nähmen - den Boden unter den Füßen wegzögen. Das dient vermutlich dazu, dass man nicht vor Angst starr wird, sondern dass man weiterhin handeln, z.B. fliehen kann. Es führt aber dazu, dass man Fakten ausblendet, wenn sie einem zu viel Angst machen.
So diskutierten vor vielen Jahren in Berlin Sozialwissenschaftler und Psychologen den Bericht an den amerikanischen Präsidenten "Global 2000". Ziemlich bald merkten sie, dass sie keine Lust hatten sich damit weiter zu beschäftigen. Aber weil sie sich gegenseitig beobachteten und über ihre Unlust sprachen, stellte sich schließlich heraus, dass sie schlicht und einfach Angst hatten, dass die im Bericht genannten Umweltschäden so gewaltig werden könnten, dass auch ihre Lebensgrundlage gefährdet sein würde. Wenn das bei Sozialwissenschaftlern so ist, muss man annehmen, dass der Durchschnittsbürger, aber auch der Politiker sich kaum anders verhalten. In einem orientalischen Märchen heißt es dazu: "Das Ohr hört nicht und das Auge sieht nicht, was es nicht hören oder sehen will."
Manche Manager trichtern heute ihren Untergebene ein: "Kommen sie nicht mit Problemen! Kommen sie mit Lösungen!" Das ist etwa so, wie wenn ein Arzt sagen würde: "Jetzt gebe ich ihnen erst Mal eine Spritze. Untersuchen werde ich sie später." Da will jemand den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Und in beiden Fällen will man sich mit dem, was nicht in Ordnung ist, gar nicht, oder erst später, wenn es sich denn nicht vermeiden lässt, befassen. Wenn aber eine Firma vor Reklamationen oder Problemen die Augen verschließt, dann schaltet sie sozusagen auf Blindflug um, dann wird es keine rechtzeitigen Warnungen geben, und in Folge dessen auch keine rechtzeitige Korrektur von Fehlentwicklungen. Das wird für die Firma wahrscheinlich ziemlich teuer und kann für die Kunden sogar gefährlich werden, wenn ein unsicheres Gerät, der ein Medikament mit gefährlichen Nebenwirkungen (z.B. Contergan) nicht frühzeitig zurück gerufen wird.
Obendrein wächst natürlich - je länger ein Problem, eine Gefahr geleugnet wird - die Wahrscheinlichkeit, dass man sie gar nicht mehr wahrnehmen kann, weil (siehe 2.) die Folgen immer größer werden und damit die Wahrscheinlichkeit, dass man sie nicht wahrhaben will und ignoriert, bis es zu spät ist.
Vermutlich spielt noch ein dritter Grund eine bedeutende Rolle:
3.    Langsame Veränderungen werden oft nicht, oder erst spät wahrgenommen. Wer in eine zu heiße Badewanne zu steigen versucht, spürt das sofort und zuckt zurück. Wer in einer Badewanne liegt und heißes Wasser nachlaufen lässt, merkt unter Umständen erst beim Aussteigen an der Erschöpfung, oder am Kreislauf, dass das wohl doch zu heiß war.
Ich erinnere mich als Kind noch Kippensammler erlebt zu haben, also Raucher, die so arm waren, dass sie die weggeworfenen Kippen anderer sammelten und sich aus den Tabakresten neue Zigaretten drehten. Damals lag auch kein krummer rostiger Nagel oder keine Schraube lange auf der Straße. Dann kam eine Zeit, in der Armut und Bettler ausgestorben zu sein schienen. Aber seit dem Ende des Ostblocks und seiner kaum überwindbaren Grenzen, aber auch durch Arbeitslosigkeit und stagnierende oder sinkende Einkommen, ist die Zahl der Bettler mittlerweile wieder stark gestiegen.
Beim Einen oder Anderen dürften auch die folgenden Gründe eine Rolle spielen:
4.    Die Welt scheint heute so kompliziert und vielfältig, dass niemand mehr den Überblick hat. Das zeigt sich ja schon bei Großprojekten (Berliner Flughafen, Elbphilharmonie, Stuttgart 21 usw.). Also meint der Einzelne, es läge an ihm, er könne das halt nicht verstehen und beurteilen und hofft, dass die Mächtigen schon wüssten, was sie tun.
Dieses "Sich-auf-die-Mächtigen-verlassen" weil man ja irgend einen Halt braucht, erklärt auch zum Teil die überaus heftigen Reaktionen auf Kritiker derartiger Projekte, wie sie sich in Leserbriefen, aber auch persönlichen Beschimpfungen der Kritiker äußern, die aber zugleich oft eine tiefe Unsicherheit und häufig Ahnungslosigkeit verraten.
5.    Der Einzelne meint oft, er habe halt ein schlechtes Los gezogen, oder sei zu empfindlich, wenn ihm etwas (z.B. Arbeitsbelastung) als unerträglich erscheint. Es wird ja auch immer wieder so getan, als ob es am Einzelnen selbst läge, wenn es ihm nicht gut geht.
Vor allem, die, die Erfolg und Macht haben, schreiben das ihrer eigenen Tüchtigkeit zu und leugnen äußere Umstände, wie Elternhaus, Beziehungen, Glück. Umgekehrt - das weiß die Sozialwissenschaft schon lange - neigen Verlierer dazu alle Schuld bei den äußeren Umständen zu suchen, und ihren eigenen Beitrag klein zu reden. Die Wahrheit liegt irgend wo in der Mitte. Aber beide Sichtweisen verhindern, dass Fehlentwicklungen rechtzeitig erkannt und behoben werden. Die Mächtigen sagen: "Diese Gesellschaft ist gut, denn ich habe es in ihr ja zu etwas gebracht, da müssen wir nichts ändern (was wohlmöglich meinen Erfolg in Frage stellen würde)." Und die Ohnmächtigen und Armen, die es persönlich vielleicht wirklich durch eine mangelhafte Erziehung oder Ausbildung schwerer haben, tun weniger für sich selbst, als sie vermutlich könnten, weil sie glauben, dass es nur an den äußeren Umständen läge. Da fällt es den Mächtigen leicht zu sagen: "Ärmel aufkrempeln, zupacken und auch Du kannst vom Tellerwäscher zum Millionär werden." Ich möchte diese Leute mal sehen, wenn sie in der Lage der ehemaligen Mitarbeiter von Nokia in Bochum oder später im Osten wären, wo die Firma  Werke schloss, nachdem sie die Subventionen des jeweiligen Landes kassiert und die Mitarbeiter ausgebeutet hatte. Ob sie dann noch den Einfluss äußerer Gegebenheiten abstreiten würden?
Auch Ängste dürften eine Rolle spielen:
6.    Wenn man erkennt, dass die Gegenwart und Zukunft zwar Folgen der Vergangenheit sind, sich aber keineswegs gradlinig weiter entwickeln müssen, dann schafft das Unsicherheit. Dann wären Fehlentwicklungen ja vielleicht das Ergebnis eigener falscher Entscheidungen. Egal, ob man die bewusst getroffen oder unabsichtlich gefällt hat, man wäre mit schuldig an der Misere, die zur Katastrophe führen kann. Und beteiligt, gar mitschuldig an einer Katastrophe zu sein, das ist schwer erträglich.
Dann verleiht die Angst (siehe 2.) keine Flügel mehr, sondern lähmt. Dann tanzt man lieber auf dem Vulkan um sich abzulenken, statt zu versuchen sich in Sicherheit zu bringen. Die Menschheit hat aber bereits den Punkt überschritten, an dem sie mehr verbraucht, als die Erde liefern kann. Es ist also höchst wahrscheinlich, dass es zu heftigen Verteilungskämpfen kommen wird. Weiter machen, wie bisher, verschärft die Probleme, statt sie zu lösen.
7.    Etwas Angst beflügelt. Wenn Angst zu groß wird, lähmt sie. Dann verhindert sie angemessene rechtzeitige Reaktionen (Weglaufen, oder Ändern, Kämpfen) auf frühere Fehlentscheidungen.
Betrachtet man die Erde samt den Menschen als ein System, dann ergeben sich weitere Gründe, die eine rechtzeitige und angemessene Reaktion verhindern:
8.    Die meisten Systeme haben stabile und wacklige Zustände. Wenn etwa eine Gruppe Menschen spazieren geht und die Schnelleren immer weiter voraus gehen, und die Langsameren immer weiter hinterher laufen, dann können beide den Kontakt zur Hauptgruppe verlieren, ja sich sogar verirren. Ist jedoch derjenige, der den Weg kennt, an der Spitze mit gelaufen, dann besteht die Gefahr, dass nun die ganze Gruppe in die Irre geht. Auf Gesellschaften übertragen bedeutet das: Wenn der Zusammenhalt verloren geht, wenn Gesellschaften gespalten werden, wird es gefährlich. Wir erleben längst eine Spaltung vieler Gesellschaften, übertünchen das aber durch Wohlfahrtsprogramme und Medien, das alt bewährte "Brot und Spiele". Diese "Diät" hält aber die Menschen meistens davon ab sich um eine Änderung und Verbesserung der Lebensbedingungen zu kümmern, weil sie zur Passivität erzieht.
Länder, die sich abschotten und einen eigenen Weg gehen wollen, etwa Nordkorea, erzeugen nicht nur Spannungen, die zum Krieg führen können, sondern sie müssen ihre Bürger an der Flucht hindern, falls sie andere Vorstellungen vom Leben haben.
Ein zu großer Reformstau, der heftiges Gegensteuern erfordern würde, ist ebenfalls gefährlich, weil viele Menschen den Ernst der Lage nicht sehen (wollen / können) und deshalb nicht bereits sind das Notwendige zu tun. Ein Beispiel dafür ist Griechenlands Verhalten in der Finanzkrise. Wobei die einseitige Aufforderung zum Sparen ebenfalls recht einfältig ist und keine Lösung der Probleme verspricht. Es müsste eigentlich klar sein, dass je weniger Menschen Arbeit haben, desto geringer werden auch die Einnahmen des Staates sein, weil ein Mensch ohne Arbeit weniger Steuern zahlen kann.
Dass Versäumnisse lange in die Zukunft wirken sieht man auch in Baden-Württemberg nach dem Regierungswechsel: In der Opposition hatte die jetzige Regierung stets eine Auflösung der Landesstiftung angestrebt, mit der die frühere Regierung zweierlei bezweckt hatte: Erstens die eingenommenen Mittel dem Länderfinanzausgleich zu entziehen (Steuerhinterziehung) und zweitens die Vergabe dieser Mittel nicht mehr dem Parlament zu überlassen, sondern einigen Vertrauten (Entmachtung des Parlamentes).  Dennoch musste die Auflösung der Landesstiftung aufgeschoben werden, weil im Etat keine 800 Millionen für die sonst fällige Steuernachzahlung vorhanden sind.
Dieses Beispiel zeigt, dass auch Politikern die Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften zu schaffen macht.. Wenn aber die Politik den Überblick verliert, dann wird sie für Interessenvertreter (Lobbyisten) zur leichten Beute und gestaltet längst nicht mehr vorausschauend, sondern hechelt hinter den Entwicklungen her.
Der Bürger spürt das und verliert den letzten Rest Vertrauen. Aber eine Gemeinschaft ohne Vertrauen fällt auseinander. Um Zusammenzuhalten muss man darauf vertrauen, dass die Anderen wenigstens in vielen Punkten dieselben Vorstellungen haben, dass man mit denselben Maßstäben misst, also über gemeinsame Normen und Werte verfügt. Gehen Vertrauen und gemeinsame Werte verloren, funktioniert keine Freundschaft, keine Familie, keine Firma, keine Gemeinde, kein Land, kein Staat.
Und damit beißt sich die Katze in den Schwanz:
9.    Wenn man keine Vorstellung mehr davon hat, was denn die Gemeinschaft sei und wolle, dann kann man auch nicht bemerken, dass etwas aus dem Ruder läuft, schief geht, sich in eine falsche Richtung entwickelt.
Dann kann der Einzelne sich auch nicht mehr für die Gemeinschaft engagieren, sondern nur für solche Ziele, die ihm sinnvoll erscheinen, die aber nicht unbedingt sinnvoll im Sinne des Ganzen sind (Verfolgen von eigenen Interessen).
Zugleich spürt aber der Einzelne, dass er sich auf immer weniger verlassen kann und das macht Angst. Er sucht Halt, etwa bei den Experten, die die Medien bei jeder Gelegenheit anbieten, oder bei Leuten, die behaupten, sie wüssten, wie der Hase läuft (Führern). Aus dieser Angst kann aber auch Aggression werden. Es ist erschreckend, wie unduldsam und aggressiv immer mehr Leserbriefe werden. Dieser Ton erinnert häufig an die ebenfalls jegliches Maß vermissenden Ausschreitungen bei Sportereignissen und manchen Demonstrationen. Der Druck im Kessel scheint zu steigen und immer weniger Menschen scheinen daran zu arbeiten die Fehler der Vergangenheit und Gegenwart behutsam zu korrigieren, so dass es nicht zur Explosion kommt.
Gerechter Weise muss man allerdings sagen, dass diese Arbeit wohl noch nie so schwierig war, wie heute. Aber entweder es kommt zu ausreichenden Reformen, oder zum Chaos. Durchwursteln (siehe Finanzkrise) wird auf Dauer nicht genügen, sondern nur die Probleme verschärfen, weil man immer nur dort löscht, wo es brennt, statt das Feuer zu verhindern.
 
Das Bild oben zeigt friedliche Demonstranten im denkmalgeschützen Schlossgarten, der dennoch für ein fragwürdiges Verkehrsprojekt gerodet wurde.
Carl-Josef Kutzbach
Montag, 21. Mai 2012