Alptraum einer schwäbischen Hausfrau
 
Stuttgarts neue Stadtbibliothek
 
Am 24. Oktober 2011 wurde passend zum „Tag der Bibliotheken“ Stuttgarts neue Stadtbibliothek eröffnet. Gefeiert wurde schon vorher, wie beim ersten Spatenstich, der Grundsteinlegung und dem Richtfest, mit geladenen Gästen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Da die Bibliothek mitten in der Brache des ehemaligen Stückgutbahnhofes errichtet wurde (bisher entstanden dort wegen der hohen Grundstückspreise fast nur Bauten in deren Aufsichtsräten Stadt oder Land das Sagen haben), musste von der nächsten Haltestelle ein stählerner Steg für 590 000 Euro errichtet werden, so dass das Ganze rund 80 Millionen kostete. Die neue Bibliothek soll Leben in ein Stadtviertel bringen, dessen Bankbauten von abstoßender Kühle und Protzigkeit sind und in dem bisher jede Annehmlichkeit fehlt.
Der Würfel hat bereits die Spitznamen „Bücherknast“ oder „Stammheim Zwei“ nach dem Gefängnis vor den Toren der Stadt erhalten, in dem auch die RAF einsaß. Das kommt daher, weil um das eigentliche Gebäude, durch Gitterstege getrennt, eine Scheinfassade aus Fertigbauteilen errichtet wurde, so dass die Fassade jeweils aus neun mal neun Quadraten besteht. In deren Mitte ist eine Tür-förmige Öffnung mit Balkongitter, darum herum Glasbausteine in hellgrauem Betonrahmen.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Fassadenelement bei der Vorstellung im Juni 2009
 
Abends wird diese Scheinfassade von innen blau und weiß erleuchtet, wobei das Weiß das Blau überstrahlt. So lassen sich verschiedene Muster erzeugen. Innen brennt das Licht seit Fertigstellung des Rohbaues vor zwei Jahren jede Nacht. Die optische Wirkung des abends blau leuchtenden Klotzes wird spätestens dann verloren gehen, wenn die Nachbargebäude gebaut werden und die Sicht auf die Bücherei verstellen. Jetzt ist er jedenfalls weithin zu sehen.
 
Das Signet der Bücherei, oder als Fassadenzier, der links die Faust des Staatstheaters zu drohen scheint:
 
Wer als Besucher bei schlechtem Wetter den Weg zur neuen Bibliothek auf sich nimmt - am besten zu Fuß über den Steg, denn Parkplätze gibt es kaum, der muss damit rechnen, dass er vor dem Betreten warten muss, denn das Haus, ein Würfel von fast 50 Metern Kantenlänge, hat zwar auf jeder Seite einen Eingang, aber die Türen verweigern sich der Hand, denn sie öffnen sich automatisch mittels eines Sensors, der den Eintrittswilligen erkennen muss. Dann aber geht fast zugleich auch die innere Tür des Windfanges auf, so dass dessen Funktion zerstört wird. Wer also erst den Regenschirm zusammenfaltet, wird kräftig kühle Luft ins Haus fließen lassen. Dass der Besucher bei Schmuddelwetter drinnen zudem auf dem fast weißen Boden Spuren hinterlassen wird, hätte jede schwäbische Hausfrau vorhergesehen.
Die Struktur des Gebäudes ist zunächst verblüffend: In der Mitte der ersten vier Geschosse befindet sich ein 14 Meter breiter würfelförmiger leerer Raum um den sich das Treppenhaus herum windet und durch kleine Fenster Blicke in diesen Raum zulässt. In seiner Mitte befindet sich ein wenige Zentimeter tiefer Brunnen, der aber bereits abgestellt wurde, weil immer wieder Besucher hinein traten, die den Blick in die Höhe gerichtet hatten, wo ein blaues beleuchtetes Quadrat scheinbar den Himmel herein blicken lässt.
 
Dieses Quadrat bildet auf der Sohle der oberen fünf Stockwerke den Mittelpunkt eines Trichters, der sich nach oben mit jedem Stockwerk weitet und dessen Wände Bücherregale verkleiden. Hier führen sichtbare weiße Treppen empor, die so schmal sind, dass gerade mal zwei Leute aneinander vorbei kommen. Sie sind von weißen Gittern flankiert, an denen sich ein Edelstahlgeländer zum Festhalten anbietet. Sollten die Besucher sich statt dessen am Gitter hochziehen, dürfte das bald ziemlich schmutzig aussehen. Ob das fast überall vorherrschende Weiß, das dem Haus etwas Lichtes gibt, auch praktisch ist, oder bald schmuddelig wird, bleibt abzuwarten.
 
Es ist fast symptomatisch für dieses Gebäude, dass seine Mitte nicht nur leer ist, sondern sogar nicht nutzbar. Dass der leere Würfel ein Ort der Stille sein soll, erschließt sich nicht. Zwar führen alle vier Eingänge durch Windfang und Vorräume direkt in diesen hohlen Würfel, aber er lädt weder zum Verweilen ein, weil er nur gedämpftes Licht enthält, noch gibt es Sitzgelegenheiten oder auch nur Matten, die zum Meditieren anregten, wie man das bei einem Raum der Stille vermuten könnte. Aber wer wollte schon in einem Raum meditieren, wenn aus den kleinen Fenstern des Treppenhauses andere auf ihn herabschauen?
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Blick aus dem Treppenhaus in „Stillen Raum“ mit dem stillgelegten Brunnen in der Mitte (vor den drei Männern).
 
Der Besucher findet in der südwestlichen Ecke des um dieses Zentrum herum laufenden Raumes eine Treppe, die ins Kellergeschoss führt, wo Schließfächer, eine Garderobe und Toiletten sind. Wer weiß, dass es nur noch je eine Toilette im 8. Stock gibt, wird sich vor dem Erkunden des Baues noch mal erleichtern. Die Schließfächer sind für Handtasche oder Laptop ausreichend, für größeres Gepäck nicht. Die Garderobe wird kaum genutzt, weil sie unbewacht ist. Das könnte bei Veranstaltungen im niedrigen Saal in der Mitte des Untergeschosses anders sein, der so wirkt, als ob man aus Not einen Keller in einen Veranstaltungsort umgebaut habe.
Vor dem Saal in der südöstlichen Ecke zwei Aufzüge, vor denen fast immer Leute warten. Wer das Haus erkunden will, fährt entweder gleich in den 8. Stocke und läuft dann abwärts, oder steigt die Treppe ein Stockwerk hinauf, dreht eine Runde um die leere Mitte und setzt das fort, bis er im 8. Stock unter dem Glasdach ankommt, das Licht in den Trichter gelangen lässt. Ob die Gitter-förmige Struktur darunter nur der Statik dient, oder auch direkte Sonneneinstrahlung verhindert, wird man erst im Hochsommer erkennen können.
Im Erdgeschoss findet man die Tageszeitungen und an den Wänden zum Treppenhaus, beziehungsweise zum leeren Würfel Flachbildschirme auf denen Köpfe die Lippen bewegen. Gegenüber sind neben einer weißen Säule je ein gepolsterter Sitz ohne Lehne. Dort kann man mit Hilfe der an der Säule hängenden Kopfhörer hören, was die Köpfe sagen. Es handelt sich um gefilmte Lesungen von Autoren, die endlos ablaufen. Man muss also warten, bis man einen Anfang mitbekommt.
Diese als „Lesungen“ titulierten Videos sind mit ihrem Geflacker beim Zeitungslesen nicht gerade Konzentrationsfördernd. Sie sind aber noch aus anderen Gründen problematisch: Bei einer echten Lesung beeinflussen die Reaktionen des Publikums die Qualität der Lesung. Ist es gebannt, wird der Autor besonders gut lesen, ist es unruhig, wird er versuchen dagegen an zu lesen, oder nervös werden, gar abbrechen. Diese besondere Qualität der einmaligen Wechselwirkung zwischen Lesendem und Publikum, fehlt einer Konserve völlig. Sie bildet sie bestenfalls ab, ohne, dass der Betrachter verstünde, was und warum es geschieht. Das Grundproblem aller Autorenlesungen, dass nicht jeder Autor ein guter Interpret seines Werkes ist, lässt sich mit einer Konserve ebenfalls nicht vermeiden, es sei denn es würden nur solche Autoren ausgewählt, die gute Vorleser sind. Die Frage, ob sich die Bildschirme bei jedem Sonnenstand gut betrachten lassen, oder ob gelegentlich Reflexe das Bild trüben, wird sich im Laufe der Zeit zeigen.
Wie lange Bildschirme und Rechner den Dauerbetrieb überstehen, wird sich vor allem bei den Touchscreens zeigen, die den Besucher durch das Haus leiten sollen. Durch Antippen kann man etwa Etagen auswählen und sich zeigen lassen, was es dort gibt. Das ist sicherlich chic, aber selbst viel größere Kaufhäuser erledigen das mittels beleuchteter Anzeigetafeln billiger und dauerhafter. Wer das Treppenhaus benutzt bekommt an den Stockwerken nur sehr vage Informationen, z.B. „3. OG Leben“.
 
Meint das nun Biologie, Medizin, Ratgeber, Philosophie, Kultur oder was? Man müsste wohl zum nächsten Touchscreen beim Aufzug pilgern, um das zu erfahren, oder eine Runde durchs Stockwerk drehen und schauen, was in den Regalen drin ist.
Nach dem düsteren Treppenhaus der ersten vier Geschosse rund um den leeren Würfel ist die lichte Atmosphäre des Trichters und seiner fünf Ebenen wohltuend.
 
Dass die Regale auf seiner Sohle weitgehend leer sind, beruht auf einer ungeschickten Auswahl. Sie sind zur Zeit den regionalen Autoren gewidmet, die zum großen Teil noch kein umfangreiches Gesamtwerk anzubieten haben. Also stehen neben einem Würfel mit ihrem Namen im Regal daneben eben nur einige Bände, der Rest bleibt leer. Dass das optisch den Autoren nicht gut tut, weil es scheinbar auf einen Mangel hinweist, hätte man bedenken sollen, zumal bei einem Buch ja nicht die Dicke, sondern der Inhalt zählt. Die Dicke lässt sich durch die Wahl einer großen Schrifttype und durch dickes Papier leicht vortäuschen, oder eben nicht, wie Reclambändchen zeigen.
Hie und da findet man Computerarbeitsplätze, deren Charme naturgemäß gering ist. Aber auch die Sitzmöbel, die an graue Fledermaussessel der 60er Jahre erinnern und Sofas, laden nicht wirklich zum genüsslichen Schmökern ein. Durch die vielen sichtbaren Treppen bekommt der Trichter den Charakter eines Treppenhauses dessen Wände man mit Bücherregalen genutzt hat. Zum Verweilen lädt das nicht ein, eher zum Weitergehen.
 
Einen Lesesaal, wie in der Landesbibliothek, in dem sich viele Gleichgesinnte konzentriert mit Medien beschäftigen gibt es nicht. Dafür ein kleines Café, das so klein geriet, dass sich kein Betreiber fand, der sich Chancen auf wirtschaftlichen Erfolg ausrechnete. Also wurde der Raum an der Südwestseite des 8. Stockes an eine gemeinnützige Gesellschaft vergeben, die dort die Besucher von Menschen mit und ohne Behinderungen mit Kleinigkeiten bewirten lässt. Irgend wann wird man dort auch die Treppe zum Dach betreten dürfen. Aber da einen großen Teil der Dachfläche das Glasdach einnimmt, wird es wohl eher nichts mit einem genüsslichen Schmökern bei einer Tasse Kaffee in der Sonne und dem gelegentlichen Blick auf Stuttgarts Hänge, von dem man bei der Vorstellung der Pläne schwärmte.
Wer zur Zeit versucht auf die Balkone zwischen Haus und Scheinfassade hinaus zu treten, um den Blick oder frische Luft zu genießen, stellt fest, dass an vielen Fenstertüren elektrische Knöpfe zum Öffnen und Schließen sind, an denen grüne Leuchtdioden die Funktionstüchtigkeit anzeigen und bei deren Drücken auch ein Geräusch ertönt, aber die sich dennoch nicht öffnen. Und in der Graphikabteilung, die normale Griffe an den Fenstern hat, steht daneben, dass man die Fenster bitte nicht öffnen soll. Vermutlich bekämen starke Schwankungen der Luftfeuchtigkeit den Grafiken nicht gut, oder überforderten die Klimaanlage. Am einzigen Schiebetürfenster, das einen Spalt geöffnet ist, lässt sich dieser Spalt weder verbreitern noch schließen. Was für ein Glück das Bücher und Beton schlecht brennen, wenn eine Flucht auf den Balkon schon an der Elektrik zu scheitern scheint. Vermutlich ist deren Benutzung sowieso nicht erwünscht, weil sonst die Besucher ja auch von außen in die Zimmer der Mitarbeiter schauen könnten und sich vielleicht fragen würden, warum da das Licht brennt und der Computer an ist, obwohl niemand im Raum ist.
 
Energiesparen, Energiewende, das sind Begriffe, die in diesem Gebäude zwar angeblich berücksichtigt wurden, da es Erdwärme nutzen soll, aber das kann der Laie nicht überprüfen. Da die Besucher viel höher hinauf müssen, als die meisten ohne Aufzug zu steigen bereit und in der Lage sind, ist hier bereits ein unnötiger Energieverbrauch eingebaut.  Fest steht zudem, dass es eine Menge unnötiger elektrischer Anlagen gibt, die viel Energie verplempern, angefangen bei den elektrischen Türen, über elektrische Fensteröffner bis hin zur Dauerbeleuchtung und dem blauen Fassadendekorlicht. In der Herrentoilette ist die automatische elektrische Auslösung von sechs Urinalen und nur drei Wasserhähnen zwar hygienisch, aber schon am dritten Tag war einer der Wasserhähne defekt und der gute Eindruck wurde zudem durch überquellende Papierkörbe geschmälert.
Bedenkt man dann noch die hohen Reinigungskosten für die weißen Böden, dann ist zu erwarten, dass die laufenden Kosten des Gebäudes der Bibliothek oder dem Stadtkämmerer keine Freude machen werden. Auch die elektronischen Medien - deren Hersteller auf immer kürzere Lebensdauern setzen, um ihren Umsatz zu stabilisieren - dürften die laufenden Kosten erheblich beeinträchtigen. Audioguides (akustische elektronische Führer) zur  Erkundung des Hauses auf eigenen Faust soll es irgend wann geben. Ebenso soll man Laptops zur Nutzung im Gebäude ausleihen können. Zwar sind solche Geräte heute billiger, aber ob sie einem harten Dauereinsatz gewachsen sind? Und vor Allem, wie oft müssen sie ersetzt werden, weil ihre Technik nicht mehr zeitgemäß ist? Dagegen dürften Bücher relativ pflegeleicht sein. Aber diese Probleme haben alle Büchereien.
Fazit: Wegen des vielen ungenutzten und nicht nutzbaren Raumes in der Mitte des Hauses musste auf dem vorhandenen Grund höher als nötig gebaut werden, was für den Benutzer weitere Wege und mehr Treppensteigen oder Aufzugfahren als eigentlich nötig, erfordert. Ein Raumkonzept, dass die Bücher auf die ersten drei, vier Stockwerke konzentriert und die Verwaltung unter das Dach verlegt hätte, wäre energetisch effizienter und für den Benutzer zeitsparender. Das hätten die Bauherren wissen können. Ebenso, dass Besucher bei schlechtem Wetter nicht alle ihre Schuhe so abtreten werden, dass sie auf dem Boden keine Spuren hinterlassen, dass dieser also besser nicht weiß sein sollte. Dem Architekten ist vorzuwerfen, dass er die Nützlichkeit und Funktion des Baues seinen Ideen unterordnete, obwohl nicht nur in der Natur, sondern auch bei gutem Design sich die Form aus der Funktion ergibt. Spätestens wenn in Folge der Wirtschaftskrise das Geld knapp wird, wird man sich überlegen, wie der ungenutzte Raum in diesem Haus zu nutzen sei. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu ahnen, dass das dann nicht im Sinne des Architekten sein wird. Aber sein Gebäude passt sowieso nicht in diese Zeit, weder von außen, noch von innen.
 
Die Fotos im Inneren wurden absichtlich so belichtet, dass der tatsächliche Eindruck möglichst genau wiedergegeben wird.
 
Carl-Josef Kutzbach
Donnerstag, 27. Oktober 2011