Alltäglicher Irrsinn
 
Wie wir die Welt ruinieren
 
Vor vielen Jahren sah ich in einem Gewächshaus der Universität Hohenheim Pflanzen, die in mit Substrat (dt. Unterlage) gefüllten Säcken wurzelten, Halt von herabhängenden Seilen erhielten  und von oben mit Wasser und Nährstoffen versorgt wurden, die an einem Nylonfaden fein dosiert zur Pflanze herab perlten. Mir war bei diesem Anblick nicht wohl, aber ich verstand damals nicht warum. Später lernte ich, dass Pflanzen auch Konstruktionen sind, die durch Wind und Wetter belastet, aber eben auch von Staub und Schädlingen befreit werden, dass diese Belastungen die Pflanzen stärker machen und, dass auch die vielen Kleinlebewesen und Pilze im Boden mit der Pflanzen zusammenwirken und für ihr Wohlergehen wichtig sind.
In diesem Versuch hatte man die Pflanzen ausschließlich darauf getrimmt Früchte zu erzeugen, die der Mensch ernten wollte. Damit die Pflanze sich sozusagen ganz auf diese Aufgabe konzentrierte, hatte man sie von allen anderen Aufgaben „befreit“: Sie musste nicht stark sein, um Wind und Regen zu trotzen, sie musste sich nicht um Schädlinge und Nützlinge kümmern, denn das machte im Gewächshaus ebenfalls der Mensch. Ihre Früchte mussten auch nicht dazu taugen Nachkommen wachsen zu lassen, sie sollten nur dem Menschen munden.
Heute weiß man, dass sich das Erleben eines Wesens zum Teil auch auf seine Erbanlagen auswirkt (Epigenetik). Und man weiß, dass Fähigkeiten, die nicht ausgeübt werden, verkümmern. Was man dagegen noch lange nicht vollständig versteht ist, wie das alles zusammen wirkt. Damals glaubte man noch, dass man alles gestalten könne, wie man wolle, wenn man nur genügend forscht (Atomenergie, Gentechnik). Mittlerweile hat man verblüfft zur Kenntnis nehmen müssen, dass viele Lebensmittel nicht mehr so schmecken, wie man sich das wünscht, oder aus der Kindheit erinnert. Die Konsumenten sind verärgert und kaufen immer mehr Biowaren, die nach fest gelegten und auch kontrollierten Verfahren angebaut werden. Einen größeren Misstrauensbeweis hätten die Lebensmittelerzeuger kaum bekommen können.
Obwohl man diese bedenkliche Erfahrung gemacht hat, schreitet ein großer Teil der Wirtschaft auf diesem Weg weiter fort. Auch beim Menschen hat man versucht nur noch seine Leistung zu kaufen. Man spricht von Arbeitskräften, statt von Mitarbeitern, von Humankapital, statt von gut ausgebildeten Arbeitern, Facharbeitern oder Ingenieuren. Schon die Begriffe zeigen, dass der Mensch auf seine Leistung, seinen Nutzen reduziert wurde. Deutlich wurde das schon bei der Anwerbung ausländischer Mitarbeiter: „Man wollte Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen!“ Die wurden zunächst als Menschen zweiter Klasse angesehen, weil sie arm waren und die Sprache schlecht sprachen. Also genügten Baracken für sie als „Unterkünfte“. Sie sollten arbeiten und dann wieder verschwinden. Wohnen brauchten sie nicht. Sie waren ja allein ohne Familie gekommen.
Mittlerweile geht es den Einheimischen auch nicht besser. Der Lkw-Fahrer wurde unfreiwillig zum Fuhrunternehmer und trägt nun das Risiko. Der Fernsehjournalist wurde zur Produktionsfirma und trägt nun das Risiko, Die Wurstverkäuferin, oder der Arbeitslose wurden zu Selbständigen oder zur „Ich-AG“. Auch sie tragen jetzt das Risiko. Mit Hilfe des Rechners und mit Druck wurde die Arbeit immer mehr „verdichtet“ und wer nicht mitkommt, wird aussortiert. Die ehemaligen Staatsbetriebe Post und Bahn haben bei der Privatisierung Zigtausende in entlassen, zur Selbständigkeit gezwungen, oder in Beschäftigungsfirmen ausgelagert. In ganz vielen Branchen ist der Beruf (das Wort kommt von Berufung) zum „Job“ (Tätigkeit, Beschäftigung) verkommen. Viele Stellen werden nur noch mit Zeitverträgen oder mit Leiharbeitern besetzt, damit keinesfalls eine längerfristige Bindung an die Firma und damit auch Pflichten, gar Kosten für die Firma entstehen.  Wer ständig um seine Stelle bangt, muckt nicht auf und schluckt sogar manche Kröte. Dass damit auch die Loyalität der Mitarbeiter gegenüber der Firma verloren geht,  wird nicht bedacht, oder in Kauf genommen.
Was bedeutet das?
So wie die Pflanze im Gewächshaus nicht mehr all ihre Fähigkeiten nutzen kann und muss, um ihre Funktion in der Natur, als Teil eines Ökosystems zu erfüllen, genau so geht den Menschen in diesem Wirtschaftssystem die Möglichkeit verloren sich als ganzer Mensch einzubringen, sich nützlich zu fühlen, anerkannt zu sein, mit den Kollegen nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu feiern und stolz auf die eigenen Arbeit zu sein. Was geht in einem Bauarbeiter vor, der ein Haus abreißt, dass er selbst mit gebaut hat und dessen Flachdach noch 15 Jahre Garantie hätte? (So geschehen in Stuttgart bei Neoplan.) Der Mensch, dessen Arbeit so wenig geschätzt wird, der laut Verbandsfunktionären austauschbar geworden ist („es stehen genug auf der Straße“), der mit Zeitarbeit oder unbezahltem Praktikum leben soll, während die Führung in Saus und Braus lebt,  leidet. Einmal daran, dass er und seine Arbeit entwertet werden. Dann darunter, dass er für sein Geld immer minderwertigere Waren bekommt, aber auch darunter, dass seine Arbeit keinen Sinn mehr zu machen scheint, wenn Firmen plötzlich ins Ausland verlagert werden, oder Häuser nach wenigen Jahren abgerissen werden, weil man den Grund, anders bebaut, gewinnbringender nutzen kann. Wie soll jemand, der ständig von Arbeitslosigkeit bedroht ist, eine Familie gründen? Wie eine größere Anschaffung tätigen, egal ob Auto oder Haus?
Der Mensch leidet aber auch darunter dass er sich nicht mehr als zugehörig erlebt. Ein „Boschler“ zu sein, galt in Stuttgart als Auszeichnung. Das war eine angesehene Lebensstellung, in der man sich auch als „Gastarbeiter“ hocharbeiten konnte und eine beinahe familiäre Beziehung zu den anderen Kollegen hatte. Aber auch beim Bosch geht dieses Gefühl der Zugehörigkeit und der Zusammengehörigkeit verloren.
Teilen der Wirtschaft ist es gerade recht, wenn ihre Mitarbeiter keine Familie gründen oder kein Haus bauen, dann kann man sie jederzeit und überall einsetzen, wie es gerade nötig erscheint. Und diese Mitarbeiter ohne Anhang, die fliegen natürlich auch als Erste, wenn „Personal abgebaut“ wird. Dass eine Entlassung die Existenz in Frage stellt und den Lebensentwurf, es sich also um eine erhebliche Krise für die Betroffenen handelt, wird durch solche Wortwahl verschleiert. Es sind die kleinen Leute, die in der Regel für die Fehler der Firmenleitung büßen müssen, egal ob Nokia in Bochum das Werk schließt, oder ein paar Jahre später weiter östlich.
Warum ist es so wichtig dazu zu gehören? Warum stürzen sich die Leute in Unkosten, um auf das Volksfest in Lederhose und Dirndl gehen zu können? Warum laufen sie jeder Mode nach? Warum besucht man „Events“, bei denen man wegen der Größe der Halle den Künstler nur auf der Leinwand sieht, weil er so weit weg auftritt?
Schon am ersten Tag des Lebens versucht ein Neugeborenes die Eltern anzulächeln um auch von seiner Seite eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Der Säugling würde ohne fürsorgliche Eltern sterben. Also ist die Beziehung zu den Eltern überlebens-notwendig. Diese Beziehung (auch Bindung genannt) ermöglicht dem Kleinkind später sich in andere hinein zu versetzen (Empathie), mitzufühlen, zu verstehen, wie es dem Anderen geht, Anteil zu nehmen. Das wiederum ist zunächst mal wichtig um Lernen zu können und natürlich später um eine dauerhafte Partnerschaft zur Aufzucht eigener Kinder zu gestalten. Auch bei der Pflege dieser Kinder ist es in den ersten Monaten wichtig zu verstehen, was das Kind braucht, auch, wenn das Kind noch nicht sprechen kann. Kurz: Beziehungen zu anderen Mitmenschen sind für den Menschen sehr wichtig. Wer sich nicht in andere hinein versetzen kann, wird sie missverstehen, ja es kann zu Kämpfen kommen. Und wer nicht gelernt hat zu lernen, der überlebt ebenfalls nicht lang.
Schaut man genauer hin, was zwischen Menschen abläuft, dann sind das vor Allem  Anerkennung, Lob und Tadel, aber auch das Abfragen der anderen Meinung, um zu prüfen, ob der eigene Standpunkt etwas taugt, oder ob man vielleicht etwas falsch einschätzt und dann vielleicht auch falsch handelt. In gewissem Sinn ist Tratsch (das Bewerten von Anderen) die von Ralf Dahrendorf bereits 1968 geforderte Werte-Diskussion. Da Tratsch auch zum Ausgrenzen benutzt werden kann („Also wie kann man nur?“), taugt er als ernsthafte Auseinandersetzung über Normen und Werte wenig. Aber er zeigt, dass die Meinung Anderer und über Andere für viele Menschen sehr wichtig ist.
Wer zusammen lebt, muss sich halbwegs einig sein, was man will und was nicht. In einer Gemeinschaft muss man sich auf gewisse Grundregeln einigen und auch darauf verlassen können, dass die Meisten sie einhalten, sonst geht Zusammenleben nicht lange gut.
Außerdem gibt natürlich das „Zu einer Gruppe gehören“ Sicherheit, Geborgenheit, Vertrauen und das Leben erscheint sinnvoller, als wenn man alleine und ständig auf der Hut durch den Dschungel der Großstadt, oder der Firma pirscht. Man kennt das von Spatzen, die als Schwarm deshalb eher überleben, weil die vielen Augen des Schwarms eine Gefahr eher entdecken, als ein einzelner Spatz.
In einer Gesellschaft, deren Arbeitswelt sich vom Team zu Einzelkämpfer-Dasein entwickelt – früher arbeiteten bei der Ernte alle zusammen, heute fährt der Maschinist auf seinem Vollernter, oder seinem Mähdrescher allein übers Feld – gehen eben auch die sozialen Beziehungen verloren. Wie viele Ehen sind früher zwischen Menschen mit ähnlichem Hintergrund, oder ähnlichen Berufen geschlossen worden, weil man sich bei der Arbeit kennen und schätzen lernte? Besteht vielleicht sogar ein Zusammenhang zwischen Arbeitswelt und der Unfähigkeit vieler Paare eine Ehe erfolgreich zu gestalten? Wenn Firmen Mitarbeiter nach Lust und Laune einstellen und entlassen, dann ist das sicher kein gutes Vorbild. Oft geschieht das ja nur, weil ein neuer Chef erst einmal die Organisation ändert, damit man sieht, dass er etwas tut. Dass da Schicksale von Einzelnen und Familien entschieden werden, spielt keine Rolle, Hauptsache, die Zahlen stimmen und er steht gut da.
Die Wirtschaft ist längst nicht mehr dazu da die Bedürfnisse der Menschen nach Waren, Dienstleistungen und Sinn-stiftender Arbeit zu befriedigen, sondern, um Reiche, die so viel habe, dass sie sich Aktien kaufen können, noch reicher zu machen. Die Rettung der Banken mit Steuergelder zeigt, wie pervers das System bereits ist. Kein Handwerker, der Pleite geht, würde mit Steuergeldern gerettet, aber Unternehmen, die mit geliehenem Geld spekulieren und sich verspekuliert haben, denen soll der Steuerzahler helfen? Ausgerechnet jenen, die mit ihrer Zahlengläubigkeit dazu beigetragen haben, dass nicht mehr der ganze Mensch anerkannt wird, sondern nur noch seine Leistung, sein Einkommen, seine Kreditwürdigkeit, ausgerechnet denen, die wesentlich zur Entmenschlichung der Arbeitswelt beigetragen haben auch noch Steuergelder geben? Ausgerechnet jenen, die ihre eigenen Geschäfte nicht mehr durchschauen, die nicht wissen, dass Vertrauen die Basis ihres Geschäftes war?
Die Banken und wegen deren Macht auch ein großer Teil der Wirtschaft ähneln jenen Pflanzen im Gewächshaus, die am Tropf hängen und in der freien Natur wohl kläglich versagen würden, weil sie mit Wind und Wetter nicht mehr klarkommen. Nur im Gewächshaus bringen sie hohe Erträge, aber der Mensch ist nicht dafür geschaffen in einer künstlichen Welt zu leben.
Der Mensch muss seine Sinne und seine Fähigkeiten ausprobieren, um zu lernen, er braucht Freunde und Bekannte, Familie, um feiern, aber auch trösten zu können, und Institutionen, die das Zusammenleben gestalten und fördern, von der Schule bis zum Rathaus, von Bus und Bahn bis zum Gasthof oder Polizei. Dort, wo er mitreden und mit gestalten kann, kommt oft recht Brauchbares heraus. Dass die Politik immer mehr Menschen nur noch anwidert, hat auch damit zu tun, dass sie nicht klar sagt, was los ist, sondern mit Begriffen operiert, die im besten Fall wolkig umschreiben, wovon die Rede sein sollte.
Angesichts der enormen Staatsverschuldung wird seit Jahren ständig davon gesprochen, dass gespart werden müsse. Als ob das die einzige Möglichkeit wäre! Sicherlich gehört die Neuverschuldung verringert. Aber auch das reiche Deutschland ist auf absehbare Zeit nicht fähig seine Schulden zu bezahlen. Die meisten Länder haben auf Kosten anderer über ihre Verhältnisse gelebt. Und nun steigt in Folge der Sparbemühungen die Arbeitslosigkeit. Aber jeder Arbeitslose zahlt weniger Steuern, Krankenkasse und Rentenversicherung, kauft weniger ein und lebt weniger gesund, als jemand mit einer anständig bezahlten Arbeit. Ähnliches gilt für schlecht bezahlte, oder unsichere Arbeitsplätze. Für viele der Betroffenen wird die Allgemeinheit im Alter mit Steuergeldern die Rente aufstocken müssen, weil sie nicht reicht.
Es wäre also klüger jetzt dafür zu sorgen, dass jeder eine Arbeitsstätte finden kann, bei der er anständig bezahlt wird und für seine Sozialversicherung selbst aufkommt. Arbeit gibt es ja genug, nur will sie niemand bezahlen. Die Frage ist, wie man das so organisiert, dass möglichst jeder seine Fähigkeiten zum Wohl der Allgemeinheit einbringen kann, denn dann entsteht der größte Nutzen für alle. Und mit diesem Wohlstand, den alle gemeinsam erwirtschaften, muss man dann auch auskommen. Dann werden keine Billiglohnländer mehr ausgebeutet, dann wird kein Pfusch mehr gekauft, der rasch kaputt geht (z.B. alle zwei Jahre ein neues Mobiltelefon), dann werden Rohstoffe sorgsam genutzt, Gegenstände können wieder repariert werden, statt Häuser nach zehn Jahren abzureißen, wird umgebaut, da wird man auf manchen lieb gewordenen Luxus verzichten, aber dafür werden wir gesünder leben, mehr mit Andern zusammen arbeiten und feiern, die kleinen Dinge und Freuden des Lebens wieder schätzen lernen. Vor allem aber werden wir wieder Mensch sein dürfen, am Arbeitsplatz und zuhause, statt wie neurotische Hamster das Rad immer schneller zu drehen, bis es uns mit psychischen Erkrankungen aus der Kurve haut (angeblich bereits 9 Millionen Erschöpfungsdepressionen / Burn out!), weil „man heute halt so arbeiten muss“, und wir die Warnsignale des Körpers nicht rechtzeitig beachten.
Dass unser Wirtschaftssystem krank macht, ist längst belegt. Aber im deutschen Gesetz steht, dass krankmachende Arbeitsbedingungen mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden; ja in welchem Gefängnis sitzen denn die Täter? Warum verdienen die stattdessen Millionen? Und der Rest wird immer kränker und ärmer? Das ist menschenverachtend! Es wird Zeit, dass dieser heute ganz alltägliche Irrsinn aufhört. Und wenn das die Politik nicht ganz schnell hinkriegt, dann werden die Menschen das selbst in die Hand nehmen. Beispiele dafür gibt es genug.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Samstag, 15. Oktober 2011
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