Weder hier, noch da
Was bewirkt es, wenn man durch Medien ständig nicht ganz bei sich ist?
 
Weder ganz hier, noch ganz da – wie wirkt das auf den Menschen?
Dass man in der Vorstellung sich wie im Traum an Orte begibt, die es tatsächlich gibt, oder sogar nur in der Fantasie existieren, ist sicherlich schon Jahrtausende bekannt. Im Traum scheint laut Hirnforschung das Gehirn aufzuräumen, auszuprobieren und die Persönlichkeit zu entwickeln.
In der Fantasie, z.B. im Märchen, im Erlebnisbericht, im Theater ist man unter Umständen auch vor Begeisterung außer sich, weil man sich mit dem Erzähler, den Handelnden, oder dem Helden identifiziert.
Seit es Briefe oder Botschaften gibt, dürfte der Empfänger sich beim Lesen oft den Absender vorgestellt haben, sich mit ihr oder ihm verbunden fühlen.
Die Frage ist nur, wie viel „außer sich sein“ verträgt der Mensch?  Früher waren Theater, Oper  Zirkus, Konzert oder Kino ganz außerordentlicher Ereignisse, von denen man noch lange zehrte und sprach. Anfangs war wohl auch die Lektüre eines Buches so ein außergewöhnliches Ereignis.
Heute nutzen viele Menschen den größten Teil des Tages Medien, die sie zu Anderen (Telefon, Mobiltelefon, SMS, E-Mail, Twitter, Facebook, et cetera) bringen, zumindest gedanklich und unter Umständen auch gefühlsmäßig,  oder sie in fremde Welten entführen (Film, Video, Fernsehen, CD, DVD, und früher Schallplatte, später Band und Kassette).  Eine wichtige Rolle spielt dabei der Computer, sei es als Werkzeug, sei es als Spielzeug.
In Stuttgart machen die Verkehrsbetriebe Werbekampagnen, die Benutzer von Kopfhörern dazu bringen sollen, auf herannahende Fahrzeuge zu achten,  nachdem es trotz Z-förmigen Gleisübergängen mit Blinklicht mehrere schwere Unfälle gab, weil die Kopfhörerbenutzer nicht einmal das warnende Klingeln der Bahn hörten, geschweige denn deren Fahrgeräusche.  
In den USA surfen laut einer Umfrage 48 % der Autofahrer zugleich im Internet oder sichten Ihre Mails. Die Zahl der darauf beruhenden Unfälle steigt. Es kann also lebensgefährlich sein, wenn man sich im öffentlichen Raum bewegt, aber zugleich mit den Gedanken, Gefühlen und sogar Sinnen (Ohr) wo anders ist. Der Gesetzgeber hat deshalb verboten im Auto zu telefonieren außer mit einer Freisprechanlage. Aber was ist mit den Navigationsgeräten? Zwar verkünden die per Sprachausgabe, wohin man fahren soll, sie zeigen aber auch auf dem Bildschirm eine Karte und erfordern, wenn das Fahrtziel geändert werden soll, meist Handgriffe und Aufmerksamkeit.
Irgendwo zwischen solch gefährliche Ablenkung durch Medien und dem genussvollen Lesen beim Liegen auf dem Bett dürfte es eine Grenze geben zwischen  „gesund und angenehm“, sowie auf der anderen Seite „anstrengend und gefährlich“.
Doch hier geht es um noch etwas anderes nämlich die Balance zwischen dem Zustand des „ganz bei sich seins“ (was im Zen mit dem Satz umschrieben wird: Tu, was Du tust!), von dem aus man auch anderen Menschen wirklich begegnen kann, und jenem Zustand des gar nicht mehr selbst zu sich kommen muss von Geisteskranken, oder Menschen, die ständig außer sich sind, egal ob aufgrund äußerer Reize, oder der Unfähigkeit (verlernt, nie gelernt, noch zu wenig geübt?) zu sich selbst zu kommen. Auch bei dieser Balance muss es ein Maß gebenden, bis zu dem es gesund ist mal bei sich und mal außer sich zu sein, wobei es vielleicht auch noch eine Rolle spielen könnte, ob man – wie beim Lesen eines Briefes – mit Gedanken und Gefühlen bei einem anderen Menschen ist, oder ob man sich über ein Medium mit etwas verbindet, das völlig abstrakt ist, wie zum Beispiel ein Tetris-Spiel.
Es wäre denkbar dass es problematisch ist, wenn man in einer Phase der Jugend, in der die eigene Person sich in der Auseinandersetzung mit anderen entwickelt, wenn in dieser Phase die digital vermittelte Begegnung mit anderen nicht genügt um diesen Reifungsvorgang zu durchlaufen, sondern man zwingend einen mehr oder minder großen Anteil an echten Begegnungen und echten Konflikten braucht. Es scheint auch so zu sein, dass Lehrer in einem gewissen Alter der Schüler viel weniger als Vermittler von Wissen gefragt sind, sondern als Vorbilder für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler.
Dass es für das Erlernen neuer Inhalte außerordentlich wichtig sein kann sich ganz dem Stoff hinzugeben, zeigt die Beobachtung kleiner Kinder, die das, was sie tun mit solcher Intensität tun, dass die Welt um sie herum versinkt und sie manchmal alles andere vergessen. Ein ähnlicher Zustand führt in der Muße dazu, dass man sich einerseits erholt, obwohl man tätig ist, und andererseits in diesem Zustand das Gehirn eine Vorstellung von uns selbst entwickelt.
Es sieht also ganz so aus, als ob es für den Menschen außerordentlich wichtig wäre zumindest zeitweilig zu sich zu kommen. Wer keine Zeit mehr hat, um zu sich zu kommen, in Muße einer Liebhaberei nachzugehen, oder zu meditieren, ist in Gefahr sich selbst zu verlieren in dem Sinn, dass das Bild, was dieser Mensch von sich selbst hat, unscharf, verwaschenen und vage wird.
Ist ein Mensch aber seiner selbst nicht mehr sicher, wird es für ihn schwer Beziehungen zu anderen Menschen zu pflegen. Man kann sich das etwas vereinfacht so vorstellen: zwischen 2 Punkten (2 Persönlichkeiten) lässt sich eine gerade Verbindungslinie herstellen. Wenn jetzt der eine Punkt  unscharf und damit zu einer Fläche wird, lässt sich keine Linie mehr ziehen, die diese Fläche mit dem anderen Punkt verbindet. Man könnte höchstens eine Linie ziehen, die so breit ist, dass sie die gesamte Fläche einschließt. Aber dann würde der andere Punkt in dieser Linie untergehen. Es könnte sein, dass übermäßige Mediennutzung auf diesem Wege zu einer Veränderung der Persönlichkeit führt, die es dieser Menschen schwer macht belastbare Beziehungen einzugehen.
Die Frage nach dem Ausmaß des Medienkonsums, der noch gut tut, ist übrigens nicht neu. Don Quichotte stellt die Karikatur eines Menschen dar, dessen Wirklichkeit durch das Lesen zu  vieler Bücher mit fragwürdigem Inhalt so beeinträchtigt wird, dass er in jeder Windmühle einen angreifenden Ritter sieht.
Wenn heute Menschen in Deutschland im Durchschnitt 585 Minuten, das sind fast zehn Stunden am Tag Medien nutzen, teils im Beruf, teils zuhause, dann wird deutlich, wie wichtig es wäre zu wissen, woran jeder einzelne erkennen kann, ob und wie viel Mediennutzung ihm oder ihr gut tut und ab welcher Menge oder Qualität es ungesund oder gar gefährlich wird.
Es wäre zum Beispiel denkbar, dass Kinder, die mit Medien beschäftigt werden, nicht mehr in ausreichendem Maße im Spiel jenen Zustand erreichen, der für das Kennenlernen der Welt und die Entwicklung des eigenen Ich's, der eigenen Persönlichkeit so wichtig ist. Dass das „bei sich sein“ eine erhebliche Wirkung auf die Persönlichkeit und die Hirnstruktur hat, lässt sich durch Hirnscans belegen, die zeigen, dass die Gehirne von Menschen, die regelmäßig meditieren, mehr Graue Masse entwickeln.
Das hat ganz praktische Auswirkungen: So fand man, dass Therapeuten, die täglich eine halbe Stunde meditieren, wesentlich bessere Ergebnisse bei ihren Klienten erreichen, als Therapeuten, die nicht meditieren. Meditation meint in diesem Zusammenhang, dass man sich intensiv mit sich selbst auseinander setzt, aber zugleich auch eine innige Verbindung mit sich selbst pflegt. das steckt wohl auch hinter dem häufig zu hörenden Satz: „in der Ruhe liegt die Kraft“, denn es geht bei Muße nicht darum nichts zu tun, sondern sich hingebungsvoll mit etwas zu beschäftigen, das einen beglückt, bereichert, zur Harmonie mit sich selbst beiträgt.
Statt dessen meinen manche Menschen, dass sie sich, sobald sie dem Hamsterrad des Berufes entflohen sind, mit Musik, Energiedrinks, Drogen oder anderen Stimulanzien (etwa Medien) zu weiteren Höchstleistungen antreiben müssen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass diese Menschen ständig auf der Flucht vor sich selbst sind und deshalb keine Stille, keine Ruhe keine Gelegenheit zur Besinnung aushalten.
Was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn ihre Mitglieder sich selbst verlieren und keinen Standpunkt mehr haben, sondern nur noch versuchen im Strom der breiten Masse mit zu schwimmen, haben schon Autoren vor vielen Jahrzehnten beschrieben: „Schöne neue Welt“, oder „1984“. Die Demokratie funktioniert mit solchen Menschen nicht mehr, weil sie mangels eigenen Standpunktes manipulierbar sind. Werbeausgaben von 23 Milliarden € im Jahr legen den Verdacht nahe, dass es nicht nur um das Vermitteln von nützlichen Informationen geht, sondern jeder Bürger für viel Geld im Sinne der Werbetreibenden beeinflusst werden soll.
Man kann ferner vermuten, dass Menschen, die ihrer selbst nicht sicher sind, darunter leiden, weil sie sowohl im Beruf, als auch im Privatleben unsicherer als nötig sind und damit auch in der Gefahr leben, dass Beziehungen weniger stabil sind.
Der hohe und vermutlich übermäßige Medienkonsum könnte also einen Hinweis darauf geben dass sehr viele Menschen viel unglücklicher sind, als sie es eigentlich sein müssten, und sie sich deshalb mithilfe der Medien versuchen besser zu fühlen. Aber umso mehr Medien sie nutzen, desto weniger werden sie zu sich selbst finden und umso unzufriedener werden sie. Auch aus diesem Grunde wäre es wünschenswert zu wissen, wie viel und wie gearteter Medienkonsum uns gut tut und ab wann weiterer Medienkonsum uns nur noch schadet.
 
Das Bild zeigt Schuhe, die jemand auf einem Schaltkasten der Telekom vergaß, vermutlich als der Bus an der dortigen Haltestelle hielt und der Mensch mit irgend etwas anderem, z.B. Telefonieren, beschäftigt war.
Carl-Josef Kutzbach
Dienstag, 12. Februar 2013 (vom 21.1.2013)