Literatur zeigt Ernüchterung
 
Tagung zu Literatur, Ökologie und Ethik 3.-5. März 2011
 
Der Erfolg eines Textes, eines Buches beruht im Wesentlichen auf wenigen Faktoren. Einen benannte schon Konfuzius vor rund 2500 Jahren: "Wenn ein Gedanke nicht schön ausgedrückt wird, geht er verloren". Der zweite ist der Inhalt, also ob das Buch den Lesern etwas gibt. Der Erfolg der Bibel und anderer ähnlicher Schriften beruht darauf, dass sie eine Grundfrage jedes Menschen beantwortet: "Wie soll ich mich verhalten?" Und das in weiten Teilen in einer gut verständlichen Form. Allerdings gibt es nach 2000 Jahren gesellschaftliche Veränderungen, die einzelne Textstellen schwerer verständlich machen. "Macht Euch die Erde untertan!" wird dann als Freibrief zur ökologischen Willkür missverstanden, während früher vermutlich jedem klar war, dass ein Herrscher, der es zu bunt trieb, nicht alt wurde. Wer mit seinen Untertanen nicht pfleglich umging, hatte unter Umständen bald keine mehr.
Mit "Literatur, Ökologie und Ethik" befassten sich Anfang März in Augsburg Wissenschaftler, die dabei auch über Wechselwirkungen zwischen Literatur, Ökologie und Ethik sprachen, ja die Letzteren als Hilfsmittel zur Untersuchung von Literatur heran zogen.
Bewegung...
Der Flaneur, also ein Fußgänger, der seine Umgebung mit wachen Sinnen wahrnimmt und sich zugleich dessen bewusst ist, dass er ein Teil von ihr ist, taucht bei so verschiedenen Autoren auf, wie Walter Benjamin, Baudelaire, oder Henry David Thoreau. Dass er, der auf motorisierte Bewegung verzichtet, umweltfreundlich ist, leuchtet sofort ein. Er verweigert sich dem Tempo der Großstadt, der modernen Welt und wählt sein Tempo selbst. Er kann, nicht nur in Fußgängerströmen zum Störfaktor, zum Sand im Getriebe werden, eben weil er sich sozusagen "entschleunigt" fort-bewegt, die Hektik und Hetze verweigert.
Vergleicht man eine Fahrt im ICE mit dem Flanieren ergeben sich sofort weitere Unterschiede: Der Flaneur nimmt sich die nötige Zeit zur Wahrnehmung dessen, was ihn interessiert; der ICE führt ihn zwangsläufig daran vorbei. Dieser Zeitraffer des schnellen Zuges mag auch Zusammenhänge sichtbar machen, aber das Tempo diktiert die Betrachtung, während beim Flaneur die Betrachtung das Tempo bestimmen kann. Der Passagier wird bewegt, der Flaneur bewegt sich selbst, körperlich und geistig.
Hinzu kommt die räumliche Trennung von der Umwelt bei den meisten Verkehrsmitteln durch ein Fenster. Man sieht, aber oft hört man schon nicht mal mehr, geschweige denn riecht, was jenseits des Fensters ist. Das Begreifen, Betasten von Gegenständen, Pflanzen oder Lebewesen ist ausgeschlossen.
Das Flanieren ist eine wesentlich sinnlichere Begegnung mit der Umwelt, die folglich auch meine Vorstellung von der Welt anders prägt, als wenn ich in einem Tempo und auf einer Route transportiert werde, die ich kaum beeinflussen kann. Der Entschluss des Flaneurs für seine Fortbewegungsweise ist eine Entscheidung für eine bestimmte Art der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt, die zu einem anderen Weltbild führt. Und das kann auch zu einem anderen Verständnis der Kultur, in der man lebt und zu einem anderen Umgang mit ihr führen.
Dieses Flanieren mit allen Sinnen, hat allerdings nur wenig gemein mit dem Herumstolzieren mit dem Ziel des Gesehen-Werdens, wie es Teile des Bürgertums bevorzugten und junge Menschen, die einen Partner suchen sicherlich immer tun werden.
...und Orte
Bei jeder Fortbewegung spielen selbstverständlich Orte eine wichtige Rolle. Bahnhöfe waren einst "Kathedralen des Fortschritts". Marktplätze, Richtstätten, Friedhöfe, Parks, Uferpromenaden, Boulevards, Gassen, Hinterhöfe, Landstraßen, Waldwege, Kreuzwege, Acker- oder Rebland, Streuobstwiesen und Weiden, Landschaft, Wildnis, sie alle haben ihre eigene Qualität. Gedenksteine, Marterl oder Schrifttafeln verweisen auf Dinge, die sich an einem Ort zutrugen, auf Geschichte. Für den geübten Flaneur weisen Anlage und Bauweise von Orten auf Geschichte hin, genauso wie die Gestaltung der örtlichen Kirche, der Burg oder des Schlosses.
Erst recht bekommen Plätze eine Bedeutung, wenn eine Beziehung zum Flaneur besteht: Hier der erste Kuss, dort der Schulabschluss, drüben die erste Arbeitsstelle, an der Ecke ein Unfall, auf dem Friedhof liegen die Großeltern. Denkmäler zeugen von Ereignissen, die für den Ort, oder das Land bedeutsam schienen, oder noch sind. Selbst Ruinen zeugen von gesellschaftlichem Wandel, von Machtverlust, wirtschaftlichem Niedergang oder Katastrophen.
Der Flaneur kann sich auf die Qualität solcher Orte einlassen, oder ihre Zerstörung durch Verkehrsströme erfahren. Er kann sich dort in andere Zeiten versetzen, in Gedanken Handlungen nachvollziehen, die hier geschahen. Das ist dann Aneignung von Geschichte und Kultur, aber auch der Umweltbedingungen, die sie hervor brachten. Der Flaneur hat die Muße sich zu überlegen, warum Menschen hier siedelten, was ihnen wichtig war und warum sie dies taten und jenes ließen.
Klimawandel...  
Dass das Klima sich stets änderte, wissen wir dank moderner Untersuchungsverfahren, z.B. Baumring-Zeitreihen oder Eisbohrkernen, die im Eis eingefrorene frühere Luft und Gasgemische, aber auch Staub und Pollen enthalten können. Der Anschein eines gleichbleibenden Klimas beruhte vor allem auf der kurzen Lebensspanne des Menschen, obwohl  etwa Gemälde von auf Grachten Schlittschuh laufenden Niederländern schon darauf hin weisen, dass es auch kältere Zeiten gab.
Vermutlich macht es auch das Größenverhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und der Erde mit ihrer dünnen Lufthülle so schwer sich vorzustellen, dass der Mensch eine Veränderung des Klimas bewirken könnte. Aber spätestens nachdem das Wettrüsten dazu geführt hatte, dass man die Welt mehrfach hätte in die Luft sprengen können - wieder etwas Unvorstellbares - hätte man sich schon denken können, dass der Mensch im Laufe der Zeit und durch seine Vermehrung, sowie die gewachsenen technischen Möglichkeiten Einfluss nehmen kann. Nur hat niemand diesen Vorgang beobachten können, sondern jeder lebt auf seinem Fleckchen Erde und sieht den Rest nur bei Reisen oder in Medien. Ein wirkliches Gefühl, ein Gespür für die Macht der Menschheit konnte sich so kaum entwickeln. Aber der Mensch handelt entsprechend seinen Vorstellungen viel mehr als auf Grund seiner Erkenntnisse, oder von Gesetzen.
Literatur kann hier hilfreich sein, in dem sie ausführlich Zusammenhänge darstellt, wie das Nachrichtensendungen nicht können, oder indem sie durch die handelnden Personen Gefühle weckt. Da der Mensch Informationen abblockt, die ihm sozusagen den Teppich unter den Füßen wegziehen würden (vermutlich damit er handlungsfähig bleibt), können mehrere Bücher auch schrittweise an Gedanken heran führen, die man nicht nachvollziehen, geschweige denn akzeptieren könnte, wenn man plötzlich mit ihnen konfrontiert würde. Es wäre beispielsweise denkbar, dass jemand, der sich zunächst nur für Tierbilder interessierte, weil die so "süß" sind, dann mehr über Tiere liest, dadurch auch auf Tiere stößt, die bedroht sind und nun neugierig geworden feststellt, dass ihnen der Lebensraum vom Menschen weg genommen wurde. Vielleicht liest dieser Mensch dann irgend wann auch Bücher über den Klimawandel und versteht dann, weshalb das Leben auf der Erde zumindest gefährdet sein könnte.
...und Risiko  
Im Mittelalter bedeutete das Wort "Risiko" Chance und Gefahr zugleich. Ungefähr ab dem zweiten Weltkrieg bekam es seine vorwiegend schlechte Bedeutung. Dazu hat später auch die Risikoforschung, deren in Deutschland bekanntester Vertreter wohl der Soziologe Ulrich Beck (Risikogesellschaft) ist, der drei große Risiken für die Gesellschaft ausmachte: Klimawandel, Finanzkrise und Terrorismus. In wie weit er damit auf aktuelle Vorgänge reagierte, oder ob er sie eher aus anderen Gründen wählte, es fällt auf., dass seit derselben Zeit (ab etwa den 80er Jahren) die Zahl der Bücher zu solchen Themen und vor allem der Filme, die sich mit Katastrophen befassen anstieg. Dabei gaben sicher auch äußere Ereignisse, wie Terroranschläge, Finanzkrise und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Klimawandel Anstöße.
Grundsätzlich neu ist Literatur, die sich mit möglichen Gefahren, Entwicklungen oder Wunschvorstellungen befasst nicht. Für Letzteres könnte Thomas Morus "Utopia" stehen. H. G. Wells (die Zeitmaschine), Jules Verne, George Orwell (1984), Aldous Huxley (Brave new world - Schöne neue Welt) und viele Science Fiction Autoren haben sich mit der Wechselwirkungen von Entwicklungen, Technik und den Folgen für die Gesellschaft befasst.
Auch die Risiken des Klimawandels, oder sein In-Frage-Stellen spiegelt sich in modernen Büchern. So hielt Michael Crichton - bekannt durch "Jurassic Park" und "die Notaufnahme" - nichts vom Klimawandel und schrieb darauf hin "Welt in Angst", das von Ökoterrorismus und ideologisierten Wissenschaftlern handelt. Das umstrittene Buch wurde sogar im amerikanischen Senat des amerikanischen Kongresses mal erwähnt und löste erhebliche Debatten aus.
Zu derartigen Büchern gehört auch Ian McEwans "Solar", in dem es oberflächlich um einen ziemlich verschrobenen Wissenschaftler geht, der sich mit Klimawandel und Solarforschung befasst, im Grunde aber mehr mit menschlichen Reaktionen auf die Gegenwart.
Jonathan Raban schrieb mit "Surveillance" ein Buch, in dem es um Terrorismus und Umwelt geht, aber auch um das durch Notfallübungen und Überwachung geschaffene Klima der Angst, dass es erlaubt die Bevölkerung zu kontrollieren. Das war wohl auch eine Reaktion auf die Gesetze und Stimmungen in den USA nach dem Anschlag auf die Türme des World-Trade-Centers in New York. Carolyn See greift dieses Ereignis in "There will never be another you (Dich gibt's nie wieder)" zwar auch auf, kontrastierte es aber mit einer persönlichen Katastrophe, die zunächst dazu führt, dass das Ereignis nicht die volle Wirkung entfalten kann, weil die persönliche Tragödie die Person ganz in Anspruch nimmt.
Solche Bücher beschäftigen sich mit Risiken als möglichen, aber nicht zwangsläufigen zukünftigen Entwicklungen. Das Neue an dieser Art von Risiken ist, dass die Urheber häufig unsichtbar sind (Terroristen, Umweltsünder, weil jeder mehr oder minder dazu beiträgt, aber auch Finanzjongleure, denen man ihr fragwürdiges Tun nicht ansieht) und oft auch nicht klar ist, wo sie wirken. Eine Gefahr, die man nicht sieht, von der man nicht weiß, woher sie kommt, das ergibt einen hohen Gruselfaktor und eignet sich auch deshalb für Romane und Filme.
Da bei allen drei Risiken der Verursacher kaum gefunden und ergriffen werden kann, war die amerikanische Parole vom "Krieg gegen den Terrorismus" eine ziemlich hohle Phrase, denn in Kriegen geht es um Eroberung von Land, oder dessen Verteidigung und um Bekämpfung einer anderen Regierung oder Bevölkerung. Zudem gelten im Krieg - dank Genfer Konvention - gewisse Spielregeln zum Schutz der Zivilbevölkerung.
Alle drei Risiken bedrohen, anders als die längst gewohnten Risiken (Hunger, Krankheit, Unfall, Armut, Gewalt), nicht mehr nur Einzelne, oder einige Wenige, sondern Ländern, Kontinente, wenn nicht sogar die gesamte Welt. Sie haben damit eine ganz andere Qualität als bisherige Risiken und werden durch die Globalisierung, aber eben auch die weltweite Berichterstattung um so bedrohlicher, weil man nie und nirgends vor ihnen wirklich sicher sein kann.
Literatur als politische Diskussion
Dass diese neuen Risiken sich in der Literatur spiegeln, zeigt, dass Literatur auf gesellschaftliche Vorgänge reagiert, sie aber auch kritisch in Frage stellen kann, sich also an der Diskussion aktueller Ereignisse, aber auch der Zukunft beteiligt. Auch Reißern und Romanen ist eine gewisse politische Funktion zuzubilligen. Ja, man wird sogar einen Teil der Auflage der gesellschaftlichen Relevanz zuordnen können, während andererseits die Schreibe und der Bekanntheitsgrad eines Autors sicherlich auch eine Rolle spielen. Literatur ist also Teil des gesellschaftlichen Diskurses, der politischen Meinungsbildung, auch wenn sich mancher Autor dessen nicht bewusst sein dürfte. Von Einigen ist bekannt, dass sie einfach das beschreiben, was sie selbst beschäftigt. Das deutet darauf hin, dass sie dank ihrer Sensibilität eine Art Frühwarnsystem der Gesellschaft sein könnten.
Man könnte sich in diesem Zusammenhang vorstellen, dass Schätzings Buch (Der Schwarm) über Schwarmintelligenz durchaus auch eine Anspielung auf die veränderten Möglichkeiten zur Zusammenarbeit ist, die das Internet bietet und die heute Politik und Medien in Schwierigkeiten bringen. Das Beispiel von Stuttgart 21 (der geplanten Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofes) zeigt, dass Bürgerinitiativen dank Internet in der Lage sind so viel Informationen zusammen zu tragen, dass kein Medium und kein Parlament dagegen halten kann, weil einfach die große Zahl der vielen Freiwilligen die personellen Möglichkeiten von Institutionen übertreffen können. Dass zudem noch extrem rasche Mobilisierung von Menschenmassen mittels Mobiltelefonen möglich ist, zeigt, dass hier neue Erscheinungsformen der politischen Auseinandersetzung entstehen, wie sich dann auch in der Schlichtung zeigte.
Ökologie und Ethik als Werkzeuge der Literaturforschung
Literatur kann also - anders als Berthold Brecht annahm - auch ohne 'kritische Fragen eines lesenden Arbeiters' politisch sein und ein Gespräch über Bäume ebenfalls. Das bedeutet aber umgekehrt auch, dass eigentlich fachfremde Kriterien, wie etwa Ökologie oder Ethik, zum Verständnis und zur Bewertung von Literatur hilfreich sein können.
Oskar Wildes Geschichte "Das Bildnis des Dorian Gray" schildert aus dem Blickwinkel der Ethik, wie ein Mensch sich weigert sich seiner Verantwortung zu stellen und in dem Augenblick darunter zusammenbricht und stirbt, als er versucht sich der Verantwortung endgültig zu entledigen, indem er das Bild, das ihn daran erinnert, zu zerstören versucht. Als "Moral" von der Geschichte, war das sicher auch früher wahrnehmbar. Das aber der Wunsch nach ewiger Jugend und nach folgenlosem Tun auch als ein Verstoß gegen die Prinzipien der Ökologie betrachtet werden kann, die Verantwortlichkeit gegenüber der Schöpfung und den Mit-Geschöpfen verlangt, sowie das Altern, das aber eben auch mit Reifen verknüpft sein sollte, das ist eine eher neue Sichtweise.
Das Buch der Natur
Im Christentum gab es die Vorstellung, dass Gott sich in zwei Büchern geoffenbart habe, in der Bibel und im "Buch der Natur". Bacon, der als einer der Gründer der modernen Naturwissenschaften gilt, meinte das "Buch der Natur" habe einen großen Vorteil, weil es nicht durch den Sündenfall ruiniert worden sei, man also einen direkteren Zugang zum Willen Gottes habe über das Studium der Natur, als über das Studium der Bibel. Die Erforschung der Natur hielt auch der gläubige Charles Darwin für eine Form des Gottesdienstes, oder zumindest für einen Weg Gottes Willen zu erkunden. Man könnte sagen, die Bibel steht für Ethik, das "Buch der Natur" für Ökologie. Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften schien der Begriff "Buch der Natur" überflüssig geworden zu sein und hätte verschwinden können. Das ist nicht der Fall, wobei der Begriff bei einigen Autoren zum Klischee verkommt, von dem man als Leser nicht recht weiß, was er bedeuten soll.
Dann geschah etwas Seltsames: Die Naturwissenschaften ersetzten den individuellen Leser durch eine Fiktion.  Im 19. Jahrhundert setzt sich das Ideal der Objektivität durch. Natur wird als etwas Fremdes, dem „ich“ gegenüber Gestelltes verstanden. Es wird versucht den Betrachter so weit wie möglich auszuschalten. Durch Experimente soll sicher gestellt werden, dass die Erkenntnisse der Naturwissenschaften von jedem Anderen jederzeit nachvollzogen werden können. Das hat sicherlich viel zur Qualität der Wissenschaften beigetragen, aber zugleich wird der Beobachter damit seiner Persönlichkeit beraubt, standardisiert, oder eliminiert.
Spätestens seit Schrödinger sein Gedankenexperiment zur Quantenphysik vorstellte, von der Katze, die zugleich tot und lebendig ist, seit da weiß man, dass es Experimente gibt, bei denen allein das Beobachten das Ergebnis verändert.
Lesen (auch im Buch der Natur) ist ein Vorgang, bei dem etwas zwischen Text und Leser geschieht. Der Leser kann beim Lesen eines Buches nicht ausgeschaltet werden, sondern im Gegenteil: Das Buch wird überhaupt erst Realität im Bewusstsein, in der Phantasie des Lesers. Er füllt das im Text Angedeutete mit Bildern aus seinem Hirn, vielleicht sogar aus seinem Leben. Das bedeutet, wenn man das Lesen im "Buch der Natur" - wenn man den Begriff wirklich ernst nimmt als "Lesen" - dass dann der individuelle Leser mit seiner Subjektivität wichtig ist.
Gerade die Vielfalt der Beobachtungen und Ansichten verschiedener Menschen, verschiedener Leser ergibt ja erst den Reiz, aber auch die Erfassung des Ganzen. Ein Botaniker sieht in der Pflanze den lebenden Organismus, der Bauer Nutzpflanze oder Unkraut, der Genetiker ein Reservoir an Genen, der Dichter vielleicht die Blaue Blume und ein Spaziergänger freut sich an der Farbe und Gestalt, die ein Maler etwa als Symbol des Lebens einsetzt. Jeder hat einen wichtige Aspekt erkannt, aber wirklich erfassen kann man die Pflanze nur in der Summe der Wahrnehmungen. Die Naturwissenschaftliche Betrachtungsweise ist eine - sicherlich wichtige - unter mehreren möglichen Weisen sich dem Wesen einer Sache zu nähern.
Im Grunde kennt das jeder Leser, der heute ein Buch weg legt, das ihn gestern begeisterte und morgen ist er wieder in der Stimmung und liest weiter, oder aber ein ganz anderes Buch. Lesen ist eben ein Vorgang, bei dem die Befindlichkeit des Lesenden ganz stark daran mit wirkt, ob es zur Begegnung zwischen Autor und Leser kommt, oder ob sie misslingt.
Stimmung und Kenntnisstand
Das ist auch der dritte Faktor der darüber entscheidet, wie ein Buch ankommt, die Stimmung und der Kenntnisstand des Lesers. Manchmal werden Bücher erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten wirklich verstanden und geschätzt.  Manchmal ist man begeistert von etwas, das sich beim nochmaligen Lesen als ziemlich dürftig entpuppt. Aber weil man beim ersten Lesen in einer ähnlichen Stimmung war, wie sie das Buch ansprach, gefiel es einem.
 So verwundert es auch nicht, dass man Kenntnisse - etwa der Ökologie oder Ethik - auch als Werkzeuge einsetzen kann, um einem Buch neue Einsichten abzugewinnen. So entpuppt sich etwa das Buch "The House of Mirth" (Haus der Fröhlichkeit) eine 1905 von Pulitzer-Preisträgerin Edith Wharton veröffentlichte gesellschaftskritische Novelle als erstaunlich modern. Eine junge Frau zerbricht darin an der Oberflächlichkeit und den Konventionen der amerikanischen Gesellschaft um 1900. Diese Gesellschaft ist der heutigen sehr ähnlich: Alles wird als Ware betrachtet und nach seinem Nutzen bewertet. Was einem nützt ist gut, was nicht ist schlecht und man kann es vergessen, wegwerfen, zerstören.
Was man damals als Kritik an Hedonismus oder Materialismus verstehen konnte, bekommt durch unser heutiges Wissen über die weitere historische Entwicklung und die Ökologie zusätzliche Schärfe, denn derartiger verantwortungsloser Egoismus führt zwangsläufig zur Zerstörung der Erde.
Bücher weisen auf Fragen hin
Wenn der Erfolg eines Buches erstens von der Form, zweitens dem Inhalt und drittens der Befindlichkeit des Lesenden, also Stimmung und Kenntnisstand abhängt, dann kann man daraus auch umgekehrt darauf schließen, auf welche Fragen, welche Themen der Erfolg von Büchern in ihrer Zeit hinweist. Und da gab es in der jüngeren Vergangenheit eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit Katastrophen befassten. Woraus man den Schluss ziehen könnte, dass der Technikbegeisterung der 50er bis 70er des letzten Jahrhunderts eine Ernüchterung folgte, die auf der Erkenntnis beruht, dass der Mensch eben doch nicht alles so gestalten kann, wie er es gerne hätte, sondern dass er die Grenzen des Menschenmöglichen nicht ungefährdet überschreiten kann, sondern vernünftiger Weise sich in den Grenzen bewegt, die ihm die Welt setzt.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Donnerstag, 24. März 2011