Ich will, aber sofort!
Keine Geduld zu Warten
 
    Warten ist nicht einfach. Das zeigt schon der Adventskalender, der Kindern die Zeit bis zu Weihnachten, dem Fest, bei dem sie im Mittelpunkt stehen, verkürzen soll. Dass es wichtig sein kann Warten zu können, wussten schon die Alten Griechen, die den Begriff des "en kairos" prägten, des richtigen Augenblickes, dem die Gunst der Stunde hold ist, den man nutzen sollte und auf den man eben manchmal auch warten muss. Auch in China gab es eine köstliche Geschichte vom ungeduldigen Bauern, der seinen Pflanzen wachsen helfen wollte und sie alle ein wenig nach oben zog (und sich wunderte, warum seine Mühe am nächsten Tag mit lauter welken Pflanzen "belohnt" wurde).
   Warten ist heute für manche Menschen fast unmöglich. Sei es, dass sie derart im Stress sind und in Eile, dass sie jeden noch so geringen Aufschub als den Tropfen empfinden, der das Fass zum überlaufen (und ihre Zeitplanung durcheinander) bringt, sei es, dass sie wie kleine Kinder, nie gelernt haben zu warten, sei es, dass sie sich so wichtig fühlen, dass man sie keinesfalls warten lassen sollte, während sie umgekehrt sehr wohl Andere warten lassen.
   Manche kaufen sich ein Auto, weil sie nicht warten wollen, bis Bus oder Bahn kommen, sondern unabhängig von Fahr- und Linienplan sein möchten. Viele haben eine Mobiltelefon, weil sie jederzeit mit anderen sprechen können, aber nicht erst nach einer Telefonzelle Ausschau halten und hingehen möchten. Manche bezahlen für die Fahrt im ICE erheblich mehr, obwohl der Zeitgewinn spätestens am Ankunftsort bei der Fahrt mit Bus oder Bahn meist wieder zunichte gemacht wird. Oder sie fliegen gleich, damit sie morgens in die Hauptstadt oder zur Tagung oder Messe kommen und abends zurück sind. Fällt ihr Flug aus, ist ihr schöner Plan hinfällig und sie der Verzweiflung nahe. Manche rennen, um Bus oder Bahn noch zu erreichen, weil sie die zehn Minuten bis zur nächsten Fahrt nicht warten möchten. Wehe, es bildet sich eine Schlange an der Kasse, da murren viele.
   Auch beim Einfädeln auf die Autobahn, oder wenn sich jemand an die vorgeschriebene Geschwindigkeit hält, werden manche wütend, wenn es nicht so schnell geht, wie sie möchten. Gerichte, die man lange kochen muss, verschwinden von der Speisekarte, wenn nicht jemand einen Weg findet, sie in fünf Minuten auf den Tisch zu bringen. Das nennt sich dann "Conveniance-Produkt", also ein Erzeugnis, dass es einem bequem macht. Fertiggerichte nannte man das früher und sie hatten nicht den besten Ruf. Der Schnellimbiss wurde zum Symbol des Wirtschaftswunders für das man wieder in die Hände gespuckt, die Ärmel aufgekrempelt und einen Riemen auf die Orgel geworfen hatte.
   Zeit ist Geld, war die Devise und alles sollte immer schneller gehen, obwohl das schon die Nationalsozialisten bei der Jugenderziehung gefordert hatten (hart, wie Kruppstahl; zäh, wie Leder; flink, wie ein Wiesel). Der Siegeszug immer schnellerer Rechner und Internetverbindungen beruht auch darauf, dass die Benutzer nicht auf den Aufbau von Internetseiten warten wollen, dass sie auf jeden ihrer Klicks sofort eine Reaktion wollen. Viele klagen darüber, dass ihr Rechner so oft abstürze, wissen aber nicht, dass sie selbst das hervor gerufen haben, indem sie mehr Befehle erteilten, als der Rechner speichern kann.
    Warum scheint Warten so schwer? Was ist Warten eigentlich? "Warten" bedeutet Zeit verbringen, bis ein erhofftes, geplantes Ereignis eintritt, oder die Zeit für eine Handlung günstig erscheint. Man wartet auf eine Gelegenheit zum Mitfahren (Bus, Bahn, Taxi etc.) oder bis Platz im Schwimmbecken ist, um hinein zu springen. Bei letzterem sieht man, wie sich die Dinge entwickeln und wartet seine Chance sehr viel gelassener ab, als wenn man an einer Bushaltestelle steht und nicht sicher ist, ob der Bus auch wirklich kommt, ihn vor allem nicht beim Herannahen beobachten kann, was einem die Gewissheit gäbe: "Hier stehe ich richtig!"
   Warten ist also dann schwerer, wenn ich nicht ganz sicher bin, dass sich das Warten lohnt und ich nicht aktiv sein kann (am Schwimmbadrand kann ich auch etwas weiter rechts oder links reinspringen, wenn sich dort eine Lücke zeigt). Angler, die Stunden lang auf das Anbeißen eines Fisches warten zeigen, dass Warten von Einigen auch als durchaus angenehm empfunden wird.
   Andere aber haben nie gelernt zu warten, weil schon ihre Mütter ihnen sofort gaben, was sie wollten, weil sie das Geschrei (der lieben Kleinen?) nicht ertragen konnten, oder wollten. Diese Menschen sind in einer frühen Entwicklungsstufe stecken geblieben, in der das Kind noch keine Vorstellung von Zeit hat und sofort die Befriedigung seiner Bedürfnisse verlangt. Die Eltern haben hier dem Kind nicht ermöglicht zu reifen, indem sie es behutsam an das Warten heran geführt hätten. Etwa beim stillen Beobachten von Tieren, etwa bei einem Spaziergang, bei dem es eben etwas dauert bis man am Ziel ist, was sich aber lohnte, weil dort etwas ist, was das Kind fasziniert, etwa eine alte Burg. Und die Eltern haben sich selbst das Leben schwer gemacht, weil sie nicht lernten, dass man ein Kind - das den dringenden Wunsch nach etwas spürt - auch eine Weile von diesem Drang befreien kann, indem man es ablenkt, sei es, dass man ihm etwas zeigt, sei es, dass man etwas erzählt, oder einfach schmust.
   Menschen, die nicht gelernt haben zu warten, fällt es schwer zu verstehen, dass es manchmal sehr klug ist, wenn man im Augenblick auf etwas verzichtet, um später dann etwas Besseres zu bekommen. Solche Menschen neigen dazu spontan etwas auf Pump zu kaufen, damit sie nicht warten müssen, zahlen dafür aber mehr (z.B. Zins und Bearbeitungsgebühr), als wenn sie erst sparen und dann wohl überlegt kaufen, denn der Spontankauf neigt dazu schon nach Kurzem an Reiz zu verlieren, vor allem, wenn es eigentlich weniger u den Gegenstand, als vielmehr um den Reiz des Kaufens (Macht ausüben) ging.
   Wer nach dem Schwäbischen Ausspruch lebt: "Herr gib Geduld. Aber sofort!" ist häufig nicht fähig langfristig Ziele zu verfolgen. Das kann bedeuten, dass man möglichst früh die Schule verlässt, um Geld zu verdienen, statt durch eine gründlichere Ausbildung später viel mehr Gehalt zu bekommen, das kann bedeuten, dass man seine sexuellen Bedürfnisse meint sofort ausleben zu müssen, fremd geht und dadurch eine dauerhafte Beziehung beschädigt, wenn nicht zerstört. Das kann bedeuten, dass man meint jede Mode mitmachen zu müssen, um dazu zu gehören, weil man Angst davor hat den Halt der Gruppe zu verlieren. Geschichte als eine Abfolge von Ereignissen, die auf einander aufbauen, aber auch das Lesen von Büchern ist Menschen, die nicht warten können, schwer zugänglich, weil sie sich weniger mit Vergangenheit und Zukunft befassen, als mit dem Jetzt. Sie neigen daher dazu unpolitisch und leicht verführbar zu sein, eben wie kleine Kinder, die dem Reiz des Augenblickes folgen, ohne an die Folgen (Misserfolg, Erfolg, Strafe, Belohnung, oder Genuss) zu denken, geschweige denn mit ihnen zu rechnen.
   Wer nicht warten kann, ist in Gefahr durchs Leben zu hetzen, damit immer etwas los ist, und alle Bedürfnisse sofort befriedigt werden. Aber er findet nie die Muße, über sich und sein Leben nachzudenken, nachzusinnen und zu prüfen, was ihm wirklich wichtig ist und wofür es sich lohnen würde, seine Kräfte einzusetzen. Ohne Muße, keine Kreativität, kein solides Selbstbewusstsein und kein Lernen, fand die Hirnforschung.
   Was tun? Ein Ausweg ist nicht zu warten, sondern die Wartezeit zu nutzen, etwa um ein Buch zu lesen. Man weiß ja, wie die Urlaubstage vorbeifliegen, wenn sie mit schönen Erlebnissen gefüllt sind, und wie lang sich die Zeit dehnt, wenn man auf irgend eine wichtige Information, etwa den Befund eines Arztes warten muss. Also kann man sich die Wartezeit verkürzen, wenn man während des Wartens etwas Schönes tut. Umgekehrt fällt Warten um so schwerer, je weniger man in der Wartezeit tut. Also ein Buch in die Tasche stecken, oder die Zeitung, oder einen Notizzettel mit all dem, was man noch machen möchte oder sollte, den man dann noch mal durch geht, und die beste Reihenfolge austüftelt. Viele machen das auch unbewusst, indem sie beim Warten telefonieren, Musik hören oder ein Spiel spielen.
   Die hohe Kunst des Wartens bestünde darin sich zu sagen, dass man hier ein kleines bisschen Zeit geschenkt bekommen habe, dass man ganz für sich selbst nutzen kann, sei es zum Nachdenken, für ein Schwätzchen, zum Genießen eines schönen Tages, zum Beobachten von Mitmenschen, zum Singen, Tanzen, Spazieren oder sonst irgend einer angenehmen Tätigkeit. So werden Wartezeiten zu Zeitgeschenken, die den Alltag verschönern. aber Vorsicht, Wenn es einem gar zu wohl wird, könnte man den Bus oder auf was immer man wartet, auch verpassen.
 
Die Bank im Bild steht in den Weinbergen zwischen Obertürkheim und Esslingen.
Carl-Josef Kutzbach
Samstag, 28. April 2012